Christa Wolf – „Stadt der Engel“

Rating: ★★★★☆ 

Christa Wolf erinnert sich in diesem (Hör-) Buch an ihren neunmonatigen Aufenthalt in Los Angeles in den Jahren 1992 und 1993. Auf Einladung der Getty Stiftung beschäftigt sie sich mit einem erzählerischen Projekt: Ihre verstorbene Freundin Emma hatte ihr Briefe einer gewissen L. vermacht, einer in den 30er Jahren nach Kalifornien emigrierten Psychoanalytikerin. Nicht einmal den vollen Namen jener L. kennt sie. Wolf begibt sich auf Spurensuche.

Wir erleben eine ess- und trinkfreudige Autorin, die in einem Hotel mit dem passenden Namen Ms. Victoria“ wohnt und Freundschaften mit ihren Mitbewohnern, Ko-Stipendiaten und einer Reihe deutsch-jüdischer Emigranten schließt.

Doch ist diese Zeit alles andere als unbeschwert: Die Autorin / Christa Wolf leidet am Bekanntwerden ihrer „Täterakte“. Als „IM Margarete“ war sie von 1959 bis 1962 bei der Staatssicherheit geführt worden. Zwar steht dies in keinem Verhältnis zu dem Umfang ihrer 42 Aktenordner umfassenden „Opferakte“, doch stellt sie sich die Frage „Wie hatte ich das vergessen können?“ Und dies ist der Kern des Buches: Eine quälende Selbstbefragung.

Auf Ihrem „Maschinchen“ hält sie fest, was ihr durch den Kopf geht: „Ich will herausfinden, wie ich damals war.“ (…) „Der Fremde in mir oder DAS Fremde in mir.“ (…) „Warum ich überhaupt mit denen geredet habe. Weil ich sie noch nicht als DIE gesehen habe, glaube ich.“ (…) „Nur zwei, drei Jahre später hätte ich DIE nicht mehr zur Tür hereingelassen.“ (…) „Zum Schreiben haben mich immer die Konflikte getrieben, die ich in dieser Gesellschaft hatte.“ (…) „Warum bin ich bei der Fahne geblieben?“

Der titelgebende Mantel Sigmund Freuds wird zum Bild dieser Befragung: Sein Schutz ist nur zu haben um den Preis völliger Entäußerung. Freud und die von ihm etablierte Psychoanalyse liefern Erklärungsansätze der menschlichen Fähigkeit zu vergessen und zu verdrängen. „Man ist nicht auf der Welt, um sich zu bessern, aber um sich zu öffnen.“ (…) „Der Mantel, den man von innen nach außen wenden muss, damit das Innere sichtbar wird.“

Ihr Nachbar Peter Gutman ist es, der das zweite Stichwort zum Romantitel liefert, den Verweis auf Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, der unaufhaltsam vorwärtsgetrieben wird, auf die Katastrophen der Menschheit zurückblicken muss und nichts heilen kann.

Und so wandert denn auch die mit der Autorin auswechselbare Hauptfigur und Erzählerin durch lange Strecken von Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit noch einmal durch das 20. Jahrhundert. Daraus entstanden ist dieser aus verschiedenen, komplex verwobenen Erzählebenen des aktuellen Seins und der nicht abgeschlossenen Vergangenheit konstruierte und letztlich fälschlich als Roman deklarierte Text Christa Wolfs, der nichts weniger ist als der Versuch einer autobiographischen Vergangenheitsbewältigung – und der Suche nach (Selbst-) Vergebung.

Nachweislich bin ich selten ein Freund von Hörbüchern, die vom Autor selbst vorlesen werden. Und – kein Vertun – Christa Wolfs schleppende, wenig intonierende Vortragsweise und müde bis deprimierte, manchmal nuschelnde bis lallende Stimme macht es dem Hörer nicht leicht, sich neun CDs und 763 Minuten Hörzeit vorstellen zu können. Doch eben weil wir es hier mit Autobiographie zu tun haben, ist dies die einzige richtige, zum Zeitdokument gewordene Lösung, eine „oral history“, an der sich noch Generationen nach uns an deutscher Geschichte interessierte Menschen delektieren können.

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