Georg Klein – „Roman unserer Kindheit“

Rating: ★★★★★ 

Dieses Buch ist wie die unendlich lang erscheinenden Sommerferien der Kindheit von einst. In der neuen Siedlung von Oberhausen, einst das Arbeiterviertel Augsburgs, in der offenbar Georg Klein 1953 zur Welt kam, erleben wir die 60er Jahre noch einmal, genau: Wir schreiben das Jahr 1963.

Zur neunköpfigen Kinderbande gehören, abgesehen vom Älteren Bruder, die Witzigen Zwillinge, der Schniefer, der Wolfskopf, der Ami-Michi, die schicke Sibylle, deren kleine Schwester und eben jener mysteriöse Erzähler (von dem wir hier nichts verraten wollen) – kurzum, eine Kurzehosenbande, die allzeit auf Suche nach Abenteuern ist, wie einst die „Vier Freunde“ von Enid Blyton. Und immer müssen sie auf der Hut vor den „Huhlenhäuslern“ sein, jener feindlichen Bande, die in jeden Kinderabenteuerroman gehört.

Doch auch merkwürdige Nachkriegsgestalten mystifizieren das Geschehen: Der Panzerkommandant Silber, der Fehlharmoniker, der Mann ohne Gesicht, der taube Kikki-Mann, der den Tod eines der Kinder vorraussagt. Denn über die unbeschwerten Sonnentage legt sich immer noch der Schatten des letzten Krieges. Die drei Überlebenden eines im Krieg gesprengten Panzers treffen in der Siedlung aufeinander. Der Kommandant mit der Silberplatte im Kopf und den amputierten Beinen, der blinde Fehlharmoniker, der Akkordeon spielt auf der Straße, mit seinem weißen Schäferhund Sputnik an der Seite, der Mann ohne Gesicht, der ein Mulltuch trägt, wo andere eine Nase haben und die Sprache der Mäuse verstehen kann. Doch auch die Eltern der Kinder sind nicht weniger seltsam.

Und dann ist da noch dieser geheimnisvolle Erzähler, der nicht müde wird zu betonen, dass er vom einzigen Sommer seines Lebens erzählt. Dieser Erzähler weiß – wie vieler seiner Gattung – mehr, weiß, wie alles weitergeht, mit dem Älteren Bruder zum Beispiel oder mit der Mutter der Schicken Sibylle. Erst auf den allerletzten Seiten erfährt der irritierte Leser die wahre Identität der Erzählers.

Für den älteren Bruder ist es der letzte Sommer der Kindheit. Am Ende der scheinbar unendlichen Ferien wird er den Bus nehmen und als erstes Kind der Siedlung auf ein Gymnasium gehen. Das wird die verschworene Gemeinschaft auflösen.

Um das Buch wirklich goutieren zu können, um mit diesem Buch mitleben zu können, muss man in der Tat möglicherweise selbst Kind der 50er bzw. 60er Jahre gewesen sein. Und man muss die Fabulierlust, die Metaphern, das Spielen mit Sprache auf höchstem Niveau mögen. Denn Georg Klein steht in Sprache, Diktion und Dramaturgie mit diesem Werk einem Heinrich Böll oder Günter Grass in nichts nach – mancher wird sich an „Billard um halb zehn“ erinnert fühlen. Zugegeben, leicht zu lesen ist diese Sprachkunst nicht. Dies umso mehr, als Georg Klein immer wieder zwischen Ereignissen und Zeiten – manchmal fast unmerklich für den Leser – überaus phantasievoll hin und her springt. Das Finale gerät gar zu einen fiebrigen Albtraum.

„Roman unserer Kindheit“, das ist ganz große Literatur, das sind fünf Sterne, mindestens, ein Buch, das man zwei Mal lesen wollen wird.

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