Hans Joachim Schädlich – „Kokoschkins“ Reise

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Ein ganzes Jahrhundert stellt uns Autor Hans Joachim Schädlich vor: Er lässt den Protagonisten seines Romans, den Exilrussen Kokoschkin, im Jahre 2005 auf eine Schiffspassage von Europa nach New York und dabei in das Reich seiner Erinnerungen gehen, vor allem an die Schlüsselorte seines Lebens. Mit seinen 95 Jahren erinnert der alte Mann sich, erzählt leichtfüßig wie knapp seine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Exil.

Es ein großes Konvolut an geschichtlichem Material, das Hans Joachim Schädlich in seinem neuen Roman „Kokoschkins Reise“ zusammentragen hat – im Nachhinein wundert sich der Leser, dass das alles in nur sechs Kapitel und auf nicht einmal 200 – und keinesfalls eng bedruckten – Seiten passte. Ganz offenbar beherrscht Schädlich die Kunst der sprachlichen Verknappung zu poetischen, hochverdichteten Momenten innerhalb eines präzisen Erzählrahmens. Nichts Überflüssiges, nichts Ausschmückendes, kein Wort zu viel findet sich in diesem Werk, auch wenn alle Jahreszahlen stets ausgeschrieben werden. Die ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie rücksichtlos manch andere Autoren viele Hundert Seiten produzieren, auf denen der Leser fast nichts erfährt.

In bemerkenswerter zurückhaltender Distanz erzählt Schädlich vom Leben des emeritierten Biologen Fjodor Kokoschkin, der im Jahre 1910 geborenen und 1918 aus Russland fliehen musste: Während der Oktoberrevolution wird sein Vater, Mitglied der liberalen Übergangsregierung nach der Abdankung des Zaren, von den Bolschewiki ermordet.

Für den achtjährigen Fjodor und seine Mutter beginnt damit eine jahrzehntelange Odyssee: Flucht ins ukrainische Odessa, wo sie die Bekanntschaft von Iwan Bunin, dem russischen Schriftsteller und ihrem späteren Schutzherrn machen. Von dort geht es weiter in das Berlin der Weimarer Republik. Seine Mutter – immer im Dunstkreis des russischen Schriftstellers – verlässt Berlin 1925 und geht nach Paris. Nach Schule und Studium in Berlin bzw. Prag emigriert Kokoschkin selber 1934 nach Boston, wo er seitdem „zu Hause“ ist.

Gefühle wie Trauer, Schmerz, Liebe blitzen zwischen den Zeilen dieses kleinen Romans immer wieder hervor wie kleine, gefasste Edelsteine, besonders anrührend auch die Mutter-Sohn-Geschichte. Brillant wahrt Schädlich die Balance zwischen dem erlebten persönlichen Schicksal und dem Weltgeschehens im 20. Jahrhundert. Am Beispiel Kokoschkins Lebens erleben wir die großen politischen Wirrnisse und Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, die Heimatlosigkeit, die Flucht und das ständige Abschiednehmen.

Seinen Roman hat Schädlich in zwei Handlungsstränge aufgeteilt: In dem einen erleben wir den Romanhelden bei seiner fünftägigen Fahrt auf der „Queen Mary 2“ von Southampton nach New York, im zweiten Teil begleitet der Leser ihn in erzählten Rückblenden, die immer wieder durchsetzt von gegenwärtigen Schilderungen der Unterhaltungen auf dem Schiff sind, durch sein bewegtes Leben, das im von den Bolschewiken besetzten St. Petersburg beginnt, über das nationalsozialistische Berlin schließlich zum Botaniker in die USA führt.

Das Buch wechselt dabei mit Kokoschkin und seinem Reisebegleiter Jakub Hlavacek, einem alten Bekannten aus Prager Zeiten, beständig zwischen den Zeitebenen und Wirklichkeitsausschnitten hin und her: Petersburg 1918, Petersburg 2005, Odessa 1920, Berliner in der Gegenwart und 85 Jahre zuvor, Prag von 1933 und 1968.

Schädlich weiß um die Ingredienzien eines guten Romans: Vorstellungskraft, Entwicklung und Sprache. Gelungen ist ihm die Rückschau seines sich erinnernden, erstaunlich vitalen und wachen Helden, gelungen sind seine komplexen und spielerischen Rücksprünge in die Vergangenheit des nach siebzig Jahren Emigration in seine russische Heimat zurückkehrenden Kokoschkin.

Fazit: Ein Roman, der man zwei Mal gelesen werden will.

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