Seneca – „De brevitate vitae“

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Man hätte sich eine Menge Bücher sparen können, wäre man nur mit diesem begonnen!

Auch die Lektüre aller so modernen „Work-Live-Balance“-Beiträge erübrigt sich durch die Lektüre dieser 2000 (Lucius Annaeus Seneca wurde im Jahre 4 v. Chr. geboren) Jahre alten und doch so aktuellen Gedanken, die über diese gesamte Zeit viele Anhänger gefunden und nur auf diese Weise zum großen Teil überleben konnten. So wird manch einer das Zitat „Die Kunst ist lang und kurz das Leben“ Goethe zugeordnet haben. Faktisch hat er dieses bei Seneca entlehnt: „Vitam breve essem, longam artem“.

Seneca weist den larmoyanten Vorwurf, dass das Leben zu kurz sei, entschieden zurück. Das Leben sei nur dann zu kurz, wenn man die Zeit nicht zu nutzen verstehe. „Nur einen kleinen Teil des Lebens leben wir. Die übrige Dauer ist ja nicht Leben, sondern bloß Zeit.“

„Wir haben nicht zu wenig Zeit – nur vertan haben wir viel davon.“ So kurz und prägnant Seneca die Sache auf den Punkt bringt, könnte mancher auch diverse Regalmeter mit vermeintlichen Lebensratgebern als Altpapier entsorgen, denn „Nichts kann ein vielbeschäftigter Mensche weniger als leben.“

Man fragt sich, was die Philosophie in der Zwischenzeit von 2000 Jahren eigentlich gemacht hat – neue Erkenntnisse hat sie jedenfalls nicht formuliert.

„Zugeknöpft sind sie, wenn es darum geht, das Vermögen zusammenzuhalten; sobald es bloß um Zeitaufwand geht, sind sie wahre Verschwender mit einem Gut, bei dem als einzigem der Geiz etwas Anständiges ist.“

Die moderne Umformulierung selbsternannter und meist familienloser „Zeitpäpste“ lautet, dass man Geld vermehren könne, nicht aber Zeit – und diese daher die höhere Priorität habe. Bei Seneca liest sich das noch so: „Niemand findet sich, der sein Geld verteilen möchte, doch unter wie viele teilt ein jeder sein Leben auf!“

Letztlich geht es ihm um das „otium“, die Muße oder freie Zeit also, im Gegensatz zum Begriff des Beschäftigtseins („occupatio“ bzw. „negotio“ oder „officio“). Das „otium“ zu erreichen und sinnvoll zu nutzen – und dabei auch gleich zu klären, wie eine solche Verwendung auszusehen hat, damit es keine erneute (Zeit-) Verschwendung wird – danach rät Seneca seinen Lesern zu streben.

Körperlicher Aktivität um der Gesundheit willen ist für ihn jedenfalls keine wirkliche Muße, genauso wenig wie geistige Tätigkeiten für „überflüssige Wissenschaften“ etwa. Freizeit, in der nichts die Entfremdung vom richtigen Leben stattfindet, in blinder Aktivität aufgehende Beschäftigung in Form kräfteverzehrender Ausschweifung oder sinnlosen Hobbys sind sein Ding nicht.

Um nichts weniger als die Lehre des richtigen Lebens geht es ihm also, konkret um die Verwirklichung von Tugend und Weisheit. Denn wahres Leben besteht nach Seneca in philosophischer Beschäftigung. Die Begründung wird gleich mitgeliefert: Wer sich der Philosophie widme, verfüge über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem er mit den Denkern aller Zeiten ins Gespräch trete. Und so weite sich sein eigenes Leben ins Unendliche. Im Ideal eines solchen zurückgezogenen philosophischen Lebens trägt dieses Werk Senecas rein epikureische Züge.

Schöner Nebeneffekt dieser zweisprachigen Ausgabe für ehemalige Lateinschüler oder solche Leser, die sich immer schon einen Einblick in die lateinische Sprache verschaffen wollten: Der lateinische Text wird jeweils auf der linken, der deutsche auf der rechten Seite einander gegenüber gestellt, so dass man das lateinische Original auf einen Blick mit der deutschen (annotierten) Übersetzung vergleichen kann.

Fazit: Eines der sinnhaftesten und nach 2000 Jahren immer noch aktuellsten Bücher überhaupt, denn „Leben muss man ein Leben lang lernen.“

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