Franz Werfel – „Eine blassblaue Frauenschrift“

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Die „Süddeutsche Zeitung / Bibliothek“ hat auch mit ihrer zweiten Staffel von 50 großen Romanen des 20. Jahrhundert ein überaus gutes Gespür bei der Auswahl gehabt.

Der vorliegende Roman – oder ist es nicht eher eine Erzählung? – mit mal gerade einmal 100 Seiten erschien im Jahre 1941, im amerikanischen Exil also, wohin Franz Werfel nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich fliehen musste.

Für mich gibt es durchaus Ähnlichkeiten dieses hervorragenden kleinen Werks mit dem umfassenden Roman „Der Untertan“ des zur gleichen Zeit in Werfels Nähe exilierenden Heinrich Mann.

Wir erleben den durchaus nicht untypischen Fall eines ehrenwerten Bürgers, Leonidas Tachezy, der sich durch ein erstaunliches Anpassungsrepertoire bis in die höchsten Gesellschaftskreise hat empor dienen können.

Seinem eleganten Wesen nach bleibt Leonidas dennoch nichts weniger als ein menschliches Schwein, dem kein moralischer Abgrund zu tief ist, um nicht darin einzutauchen. Ohne Zweifel dürfen wir in diesem „Sittengemälde“ die Abrechnung Werfels mit seinen österreichischen Zeitgenossen der Oberschicht annehmen.

Fazit: Selten las ich auf so wenigen Seiten ein solch präzises Charakterbild eines „Wendehalses“ in nationalsozialistischen Zeiten, von dem wir annehmen dürfen, dass es, wie das Werk insgesamt, zeitlos ist.

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