Gerhard Roth – „Ein stiller Ozean“

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Das Leben auf dem Lande wird seit altersher idealisiert. Doch erlaubt die Anonymität der Stadt eine große Distanz zu den Anderen, ist die Nähe auf dem Landes oftmals erdrückend. Die soziale Kontrolle ist um ein Vielfaches größer. Wer untertauchen will, dem gelingt dies am besten in einer großes Stadt. Stadtluft macht auch in diesem Sinne frei(er).

In großer Meisterschaft erzählt Gerhard Roth in diesem Roman aus dem Jahre 1980, mit dem sein Romanzyklus „Archive des Schweigens“ beginnt, wie der Arzt Ascher in einer persönlichen Lebenskrise Abstand und Erholung auf dem Land sucht, hinter der vermeintlichen Idylle jedoch eine archaische und brutale Welt entdeckt, in die er selber alsbald hineingezogen und verstrickt wird.

Unter dem Vorwand, eine Virus-Erkrankung auskurieren zu wollen, hat Ascher ein abgelegenes kleines Haus gemietet. Doch Ascher lügt: Nach einem tödlichen Kunstfehler an einer großstädtischen Klinik wurde er vom Gericht zwar freigesprochen, wird aber mit seinem Gewissen nicht fertig. Vom Erlebnis des bäuerlichen Lebens erhofft er sich seelische Heilung.

Doch Ascher hat seine Anpassungskraft an diese ihm fremde Welt überschätzt. Es fällt ihm schwer, sich heimisch zu fühlen. Als sich im Dorf ein Mord ereignet und das Dorf Jagd auf den Mörder macht, wird er vor die Entscheidung gestellt, sich an dieser Jagd zu beteiligen oder sie zu unterstützen. Ascher erkennt, dass die Flucht aus der Stadt ein Fehler war. Wohin man auch immer geht, man nimmt sich selber – und seine Probleme – immer mit.

Nachdem Ascher hinter der trügerischen Idylle einer schönen Natur und des auf den ersten Blick beschaulichen Lebens der Enge, die Hilflosigkeit, den Fatalismus der Bauern erkennt, entschließt er sich, zu bleiben.

Der Roman hat autobiographische Züge und läuft parallel zu Roths eigener Erfahrung. Auch er, Arztsohn aus Graz, kam auf Widerruf und blieb 1977 in der steirischen 500-Seelen-Gemeinde Obergreith, nahe der Grenze zu Slowenien Dabei folgte er nicht modischen Stadtflüchtlingen, sondern suchte nichts weiter als Ruhe, wollte wandern. Doch schnell lernte die Leute des kleinen Ortes und ihre Probleme kennen: Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus.

Die FAZ schrieb dieser Roman habe etwas „von Stifterscher Genauigkeit und Stille.“ Das könnte ich nicht besser formulieren. Ein großer Roman. Für mich der Beste aus dem gesamten Romanzyklus. Der einstige Fassbinder-Kameramanns Xaver Schwarzenberger verfilmte das Buch kongenial.

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