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„Without any literary value, but not to be opened by anybody before 20 years after my death”, schrieb Thomas Mann vermutlich noch im amerikanischen Exil auf seine Tagebücher.
Beides war vermutlich eine gute Entscheidung. Der literarische Wert der insgesamt 4500 Druckseiten ist in der Tat wohl nur gering und trägt nicht wesentlich zum Verständnis einzelner Werke bei. Anders als zum Beispiel bei Max Frisch gibt es keine Werkpläne und nur spärliche Notizen zur laufenden Arbeit. Die Auskünfte zur Person Thomas Manns sind hingegen so offenkundig, dass die 20-jährige Frist Familie und Wertschätzung des Werks derweilen geschont haben. Insgesamt muss Thomas Mann wohl an die 100.000 Seiten handschriftlich niedergeschrieben haben im Laufe seines Lebens – nicht eingerechnet die immense Korrespondenz. Kaum ein Brief, den er nicht beantwortete. Briefe, das war wohl sein Art, Menschen aus der Ferne zu lieben.
Ich höre zur Zeit die „Tagebücher 1918 bis 1955“ in der gekürzten Hörbuchform – 10 CDs (Gesamtlaufzeit 945 Minuten – umfangreiches Booklet) vorgelesen von Hanns Zischler – eine wunderbare Besetzung. Von Thomas Manns Tagebüchern sind die Aufzeichnungen von 1918 – 1921 und von 1933 bis 1955 erhalten geblieben. Zwischendurch hatte Mann mehrmals alte Tagebücher vernichtet. Der Verlust für die Menschheit dürfte nur gering gewesen sein: Das, was erhalten blieb, ist mehr als genug. „Es kenne mich die Welt, aber erst , wenn alles tot ist.“
Aus diesem riesigen Konvolut galt es, für eine Lesung eine Auswahl zu treffen und einen ordnenden Zusammenhang herzustellen. Die Aufgabe, diese Textfülle für das Ohr des Hörers zu zähmen, hat Reinhard Baumgart übernommen, ein profunder Thomas-Mann-Kenner. Ergänzt wird die Box um ein „Feature“ von Hermann Kurzke „Leben und Werk“ (2 CDs). Diese serh wertvolle Doppel-CD enthält Originalaufnahmen von Thomas Mann, Erika Mann und Golo Mann.
Es wird beim Hören nicht nur klar, welch Hypochonder Thomas Mann war, sondern auch welch prätensiöser, verwöhnter, extrem eitler Stiesel. Ein „verpimpeltes“, narzisstisches Bürschen, alleine – schon gar nicht ohne seine Katia – kaum überlebensfähig. „Behagensminderung“ ist ein typisches Wort für den egozentrischen und und luxusverwöhnten TM. „Das Rauchen ist das einzige Behagen in meinem ansonsten unbehaglichen Leben“ – die Welt erstickt am Mitleid. TM hat in seinem Leben offenbar viel geschlafen und auch tagsüber oft „geschlummert“ – kein Wunder, dass er nachts ohne Schlaf- und Beruhigungsmittel nicht zur Ruhe kam. Die Menge der von ihm im Laufe seines Lebens konsumierten Schlaftabletten kann wohl nur in Kilo beschrieben werden.
Am Ende erfahren wir ihn als einen Menschen, der einzig und ausschließlich, ja, krankhaft am eigenen Ich interessiert ist. „Ichsüchtig“ habe man ihn genannt, schreibt TM. „Ichsüchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet.“ so bäumt sich TM gegen den Vorwurd der Kälte und der Liebesleere auf.
Denn lieben, das kann Thomas Mann ebensowenig wieder von ihm geschaffene Tonsetzer Adrian Leverkühn im „Dr. Faustus“. Nicht geliebt werden, nicht lieben zu können, ist auch das Leid des „Kleinen Herrn Friedemann“, wohl auch des Tonio Kröger mit seinem Befund “ … das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben.“ Ja, auch Gustav Aschenbach wird im „Tod in Venedig“ dieses Leid zuteil
Selbst Eigenlob ist TM deshalb wohl keineswegs peinlich – kein Wunder, bei all den Gehässigkeiten anderen Autoren gegenüber, war externes Kollegenlob wohl eher selten. Selbst für die Beisetzung seines Sohnes Klaus unterbricht TM seine Vortragsreise in Skandinavien nicht. Über Unterstützungsgelder für den materiell beengten Bruder Heinrich wird akribisch Buch geführt, die „nurse“ kann angeblich für den todkranken Heinrich nicht mehr von TM (oder Katia?) finanziert werden. Welch kaltes Herz! Welch opportunistischer Menschenschlag, dem eine Masturbation ohne Vollerektion einen Tagebucheintrag wert ist.
Seine homophilen Neigungen, die er in seinem Werk stets (gedrechselt, verschwurbelt) camoufliert hat, gibt der Mann mit dem Charme eines Sparkassenfilialleiters in seinen Tagebüchern hingegen in epischer Breite der Nachwelt schonungslos preis – wie sich der 75jährige Mann zum Beispiel im Züricher Hotel Dolder in den jungen Kellner Franz Westermaier verliebt – und seine Gefühlswallungen mit Frau Katia und Tochter Erika diskutiert. Der „Franzl-Episode“ wird im Hörbuch erstaunlich viel Raum gegeben. Ohne seine Knabenliebe, die angeblich immer nur gedacht und aus der Ferne Platz in seinem Herzen hatte, wären Werke wie Tod in Venedig und Tonio Kröger in der Tat nicht denkbar, ähnlich wohl wie Hesses „Narziss und Goldmund“, dessen Lebenskrisen und literarisches Werk heute ebenfalls zunehmend als Ausdruck einer unterdrückten Homosexualität gewertet werden.
Hatte TM je Freunde? Außer dem ähnlich verschrobenen, im Leben gescheiterten und narzisstischen Hermann Hesse wohl kaum. Tatsächlich verband TM mit Hermann Hesse so etwas wie eine private Freundschaft (weniger wegen der Schriftstellerei, worin sich Thomas Mann laut Sekundärliteratur Hesse überlegen fühlte und deshalb in diesem keinen Konkurrenten sah). Hesse war aber angeblich immerhin ausschlaggebend für Thomas Manns Wohnsitzwahl in der Schweiz. Doch TM wählte allerdings nicht das italienischsprachige Tessin wie Hesse, sondern Zürich, weil er im deutschen Sprachraum bleiben wollte.
TM liebte den erhebenden Umgang mit den Großen. Er nahm jeden Preis und jede Würdgung an, delektierte sich an jedem neuen Ehrendoktor und an jeder Ehrenbürgerschaft, bat gar den Papst um eine Privataudienz (und freute sich, dass andere wartende Kollegen im Flur nur im Kollektiv empfangen wurden) – hält er sich er doch für den „Erwählten“, für den Größten. Da kann man dann durchaus abwiegelnd von sich schreiben: “Ich habe mich nie für groß gehalten, aber ich liebe es, mit der Größe zu spielen und mit ihr auf vertraulichem Fuße zu stehen.” Meist wird nur der erste Teil des Satzes zitiert, doch erst in seiner Vollständigkeit offenbart sich die Ambivalenz des Zitats.
Seine in den Tagebüchern dokumentierte politische Meinung, die nach seiner Auswanderung gar in antifaschistischen Reden mündet, zeitigt zunächst keineswegs einen Freund des Fortschritts oder der Demokratie. Wären er und seine Familie nicht vom Naziregime verfolgt und zur Emiogration gezwungen gewesen, wer weiß, welche Denkungsart dieser in nackte jüngliche Oberkörper vernarrte deutsche Autor noch entwickelt hätte?
Andererseits entwickelt sich TM vom einstigen Monarchisten zum „gemäßigten Sozialisten“ – woran der Faschismus – nach seinen eigenen Worten – schuld war. In den USA wurde er in der McCarthy-Ära gar als „communist“ verfolgt. Auch muss man ihm 50 antifaschistische Radiobeiträge der BBC zugute halten.
Doch ist es kaum mehr möglich, das Werk Thomas Manns in Kenntnis seiner Tagebücher noch im gleichen Maße zu goutieren wie vormals. Ja, sie geraten zum Teil zum Dementi seines eigenen Werks. Es fällt nun schwer, das dichterische Werk ernstzunehmen. Hätte er doch alle Tagebücher verbrannt! Dennoch bleibt Thomas Mann ein begnadeter Wortsetzer des Deutschen und hypersensibler Beobachter des Gesellschaftlichen und Persönlichen. Ohne diese enervierte Sensibilität wäre sein Werk wohl nicht denkbar. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wir müssen uns den Autor Thomas Mann als einen unglücklichen Menschen vorstellen.
Fünf Sterne gibt es für dieses gelungene Hörbuch.