Friedrich Dürrenmatt – „Das Versprechen“

Rating: ★★★★☆ 

Friedrich Dürrenmatt ist einer der großen deutschsprachigen Schriftsteller und wenigen Moralisten in dieser Branche.

Er schreibt, der Filmproduzent Lazar Wechsler habe im Jahre 1957 bei ihm eine Filmerzählung bestellt, um einen Film über Sexualmorde an Kindern zu produzieren. Nachdem der Film fertig war, überarbeitete Dürrenmatt das Drehbuch, die Endfassung erschien im Jahre 1958 als Roman unter dem Titel „Das Versprechen“. Im Untertitel nennt er ihn „Ein Requiem auf den Kriminalroman“ – wir werden sehen warum.

Wir erleben ein filigranes Kunstwerk mit verschiedenen Erzählebenen.  Auf der ersten Ebene fährt Friedrich Dürrenmatt mit dem Zug nach Chur, um dort einen Vortrag zu halten über die Kunst, Kriminalromane zu schreiben. Dr. H., ein ehemaliger Kommandanten der Kantonspolizei Zürich, der unter den Zuhörern gewesen war, nimmt ihn am nächsten Tag im Auto mit zurück nach Zürich. Dr. H. hält nichts von Kriminalromanen, weil darin die Verbrecher immer ihrer gerechten Strafe zugeführt würden und das Geschehen am Ende immer wie eine Rechnung aufgehe. Das aber habe mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun, da gebe es zu viele Zufälle und Störfaktoren.

Dr. H. tankt zwischendurch an einer heruntergekommenen Tankstelle in Graubünden. In der dazugehörigen Wirtschaft „Zur Rose“ lädt er den Schriftsteller auf eine Tasse Kaffee ein. Hinter der Theke spült eine hagere Frau Gläser. Die Kellnerin Annemarie sieht wie 30 aus, ist aber erst 16. Als Dr. H. und Friedrich Dürrenmatt zurück zum Auto gehen, sitzt der alte Tankwart bereits wieder auf einer Steinbank neben der Haustür. „Er war unrasiert und ungewaschen, trug einen hellen Kittel, der schmuddelig und verfleckt war, und dazu dunkle, speckig schimmernde Hosen, die einmal zu einem Smoking gehört hatten. An den Füßen alte Pantoffeln. Er stierte vor sich hin, verblödet, und ich roch schon von weitem den Schnaps. Absinth.“

Während der Weiterfahrt erzählt Dr. H., der Tankwart heiße Matthäi, sei promovierter Jurist und einmal als Oberleutnant bei der Kantonspolizei sein bester Mann gewesen. Dann erzählt er von dem Mordfall vor neun Jahren und Dürrenmatt nimmt den Leser mit auf die zweite Erzählebene.

Der verdiente Dr. Matthäi, damals 50 Jahre alt, sollte  auf Grund eines Abkommens zwischen der Schweiz und Jordanien nach Amman gehen, um dort die Polizei zu reorganisieren. Am Nachmittag vor der geplanten Abreise erhält er jedoch noch einen Anruf aus Mägendorf, einem Ort bei Zürich. Ein Hausierer mit Namen von Gunten hatte im Wald ein ermordetes Schulmädchen gefunden. Matthäi fährt mit einigen weiteren Beamten hin. Bei der Toten handelt es sich um Gritli Moser aus Moosbach. Weil alle anderen sich davor drücken, überbringt Matthäi den Eltern des Kindes die schlimme Nachricht.

Da begann plötzlich die Frau zu sprechen.
„Wer ist der Mörder?“, fragte sie mit einer Stimme, die so ruhig und sachlich war, dass Matthäi erschrak.
„Das werde ich schon herausfinden, Frau Moser.“
Die Frau schaute ihn nun an, drohend, gebietend. „Versprechen Sie das?“
„Ich verspreche es, Frau Moser“, sagte der Kommissär, auf einmal nur vom Wunsche bestimmt, den Ort zu verlassen.
„Bei Ihrer Seligkeit?“
Der Kommissär stutzte. „Bei meiner Seligkeit“, sagte er endlich. Was wollte er anders.
„Dann gehen Sie“, befahl die Frau. „Sie haben bei Ihrer Seligkeit geschworen.“

Nach umfangreichen nächtlichen Vernehmungen durch seinen Nachfolger gesteht der Hausierer von Gunten den Mord. Matthai hingegen scheint das Geständnis unlogisch. Statt nach Amman zu fliegen untersucht er den Fall auf eigene Faust weiter, pachtet dazu gar jene Tankstelle in Graubünden. Matthäi nimmt eine ehemalige Prostituierte namens Heller, die nun in der Ziegelfabrik arbeitet, mit ihrer 7- oder 8-jährigen Tochter Annemarie als Haushaltshilfe bei sich auf. Er will dem gesuchten Serienmörder hier an der Durchgangsstraße von Graubünden nach Zürich eine Faller stellen – mit Annemarie als Köder. Weder das Kind noch die Mutter ahnen davon etwas.

Der Serienmörder tappt zunächst in die Falle. Doch im entscheidenden Moment kommt er nicht, nicht mehr, nie mehr. Matthäi verfällt dem Wahnsinn.

Dürrenmatt hat – anders als in der Verfilmung von Lazar Wechsler – dem Buch ein absurdes Ende gegeben. Er setzt sich über die gängigen Regeln eines Krimis hinweg und schlägt eine völlig andere Richtung ein. Während der menschlich-engagierte Kommissär Matthäi im Film mit seinen Ermittlungen Erfolg hat, verliert der Matthäi der Erzählung wegen seiner vergeblichen Suche nach dem Mörder den Verstand.  Und das alles wegen eines dummen Zufalls. Zwar erfährt der Leser, wer es getan hat, doch der Protagonist kann die Ernte seiner verbissenen und folgerichtigen Arbeit nicht einfahren – deshalb auch „Requiem auf den Kriminalroman“.

Aus rezeptionsästhetischer Sicht dürfen wir nicht vergessen, dass wir die 50er Jahre schreiben, in denen das „absurde Theater“ seine Erfolge feiert! Auch bei Samuel Beckett kommt Godot nicht. In den Stücken der absurden Dramatiker lösen sich die vom klassischen Theater geforderten Einheiten der Zeit, der Handlung und des Ortes auf. An ihre Stelle treten unlogische Szenarien, absurde Handlungen, die als eine moderne Form des Mythentheaters bezeichnet und in Zusammenhang mit den Themen- und Fragestellungen der Psychoanalyse betrachtet werden können.

Aufführungen von Beckett-Stücken waren dafür bekannt, dass ein Großteil des Publikums bereits zur Pause das Theater verließ. Auch bei Dürrenmatt bleibt der Leser  gleichsam mit seinem Helden frustriert zurück.

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