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„Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen wie eine Hallig im Meer“ – so setzt Walter Kempowskis in „Alles umsonst“ ein. Man könnte meinen, man befinde sich in einer von Theodor Fontanes bedächtigen vorpommerschen Wanderungen in der Mark Brandenburg.
Nicht zufällig ist der Titel doppeldeutig. Und er passt so ganz zu seinem Autor, der diesen Roman dankenswerter Weise ungekürzt auf 10 CDs und 725 Minuten selber eingelesen hat. Hier erzählt Walter Kempowski die Geschichte der Familie von Globig auf dem Gut Georgenhof im letzten Kriegswinter 1944/45. Wir lernen die junge Gutsherrin Katharina von Globig kennen, die sich in einem Refugium von Büchern, Zigaretten, Musik und Nichtstun zurückgezogen hat, weil und während ihr Mann Eberhard als Offizier den Krieg an der Front in Italien gut aushält. Um den Lauf der Dinge kümmert sich das „Tantchen“ aus der entfernten Verwandtschaft. der zwölfjährige Sohn Peter wird von Studienrat Dr. Wagner betreut. Der Fremdarbeiter Wladimir kümmert sich um die wenigen verbliebenden landwirtschaftliche Belange, denn man hat alles verkauft und in Aktien angelegt, die allerdings ausländischer Art und damit nun kraft Gesetzes perdu sind.
Wir erleben die verschiedenen Charaktere eines solchen Ortes: Den Pastor, der Katharina dazu überredet, einen jüdischen Flüchtling aufzunehmen; den Parteisoldaten und „Blockwart“ Drigalski, den Bürgermeister Sarkander, den „Nationalökonomen“, der lieber Tischler geworden wäre, die hungrige Geigerin, die kurzerhand mit ihren Melodien den Kriegswinter aufhellt.
Man weigert sich auf dem Georgenhof, die Tatsache der vorrückenden russischen Front anzuerkennen und zögert die Flucht so lange wie möglich hinaus. Als man dann endlich aufbricht, wird die Flucht in den Westen keiner außer Peterchen überleben: Je weiter der Treck nach Westen zieht, desto rascher summiert sich die Zahl der Toten: „Tantchen“ und ihre Kutsche werden von einer Bombe getroffen; Wladimir und Vera werden wegen Plünderung ausgehängt, Peters Lehrer kommt im Fluchtchaos um, seine Mutter geht als Gefangene irgendwo in Richtung Osten in den sicheren Tod. Und Eberhard nimmt sich in Italien das Leben. Einfach so.
Wir erleben die Präzision von Kempowskis Schilderungen, der darauf verzichtet, Schuld aufzurechnen oder nach Tätern und Opfern zu unterscheiden. Stattdessen schildert er mittels Zitaten aus Schlagern, Bibel- und Dichterworten unsentimental und genau die Atmosphäre des untergehenden preußischen Bildungsbürgertums. Woher Kempowski diese Geschichte nimmt, ist nicht geklärt. Ihn kennend, darf man realen Hintergrund vermuten.
Am Ende war dann in der Tat alles umsonst: Nichts konnte man letztlich mitnehmen. Fast alle haben ihr Leben verloren. Nur für die, die danach kamen und das fanden, was die Ostpreußen zurückließen, für die war alles umsonst. Aber auch das ist für Kempowski nachvollziehbar und in Ordnung.
Was bleibt, ist der Mensch in seinem Wahn. Wozu all dieses Elend? Diese Frage schwingt immer im Hintergrund mit. Zu recht.