Uwe Timm – „Freitisch“

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Was für ein Erzähler, dieser Uwe Timm! Viele sind zwar berufen, nur wenige aber sind auserwählt. Und das, obwohl Uwe Timm diesem Büchlein den Gattungsbegriff „Novelle“ gegeben hat.

Schon seine erfolgreiche, mittlerweile verfilmte „Entdeckung der Currywurst“ nannte er eine Novelle. Schreibt man denn heute überhaupt noch Novellen? Ist zwischen Roman und Erzählung Platz für eine Gattung, die auf Boccaccio zurückgeht und ihre Blüte im 19. Jahrhundert hatte?

Goethe hatte einst im Formelbüchlein unter „Novelle“  eine „unerhörte“ Begebenheit festgeschrieben, die „sich ereignet“ hat. Doch damit fehlt diesem Werk faktisch alles Novellenhafte: Nicht nur die unerhörte Begebenheit, sondern sogar eine mitteilenswerte Handlung.

Denn diese Novelle Timms umfasst auf mehreren Erzählebenen – vor allem einige Stunden im Straßencafé der Landbäckerei Grützmann in Anklam, jener Hansestadt in Mecklenburg-Vorpommern. Zwei ehemalige Studenten treffen sich nach vier Jahrzehnten wieder und tauschen völlig unspektakulär Erinnerungen an ihre Studentenzeit aus.

Die Gegenwart der Novelle ist jetzt. Anklam, eine „sterbende Stadt“ hofft auf eine Mülldeponie und bei 25% Arbeitslosigkeit auf Arbeitsplätze. Euler könnte es richten, denn er hat sich von Arno-Schmidt-Adepten der 60er Jahre zum erfolgreichen Müll-Logistiker gewandelt. Der Erzähler – das alter ego Uwe Timms – hat seinen Frieden als Lehrer für Deutsch und Geschichte gefunden, ist längst pensioniert, betreibt nebenher ein kleines Antiquariat für 68er Literatur und Schmidtiana, hat ein Rosenbeet hinter dem Häuschen.

Ja, man erinnert sich. Gemeinsam hebt man die verschütteten Schätze der Erinnerung, etwas wehmütig, aber auch nicht ohne Humor. Man blickt zurück. Man erinnert und fragt sich. Was wurde aus den Plänen, Träumen, politischen Vorstellungen und persönlichen Lebensentwürfen von damals?

Einst, in den frühen sechziger Jahren hatten sie gemeinsam an einem Freitisch einer Münchener Versicherung zu Mittag gegessen. Zu ihrer Entourage gehörten noch zwei andere notleidende Stipendiaten, auch ihre wirklichen Namen bleiben anoym, sie heißen der „Jurist“, der dann Karriere bei Siemens machte, inzwischen ein Chalet mit Blick auf den Großglockner sein Eigen nennt, und „Falkner“ – der tatsächlich ein erfolgreicher Schriftsteller geworden ist. Einst zerhackte er auf einem Happening ein Piano und ließ parallel Zwiebeln dazu braten, probte die sexuelle Weltrevolution mit den Stewardessen zweier Airlines.

Es war die Zeit der Notstandsgesetze und Godards „Außer Atem“. In seiner dokumentarischen Erzählung „Der Freund und der Fremde“ über Benno Ohnesorg hat Timm diese Motive schon einmal verarbeitet. Diesmal stehen Arno Schmidt und seine „Kühe in Halbtrauer“ und nicht Albert Camus im Zentrum des intellektuellen Begehrens.

Gewiss war es damals aufmüpfig, Arno Schmidt zu lesen. Doch nicht genug damit, Euler wollte unbedingt Schmidt in Bargfeld bei Celle besuchen, dem er einen eigenen Text zur Begutachtung geschickt hatte. Der erste Versuch misslingt, dem zweiten jedoch ist mit trojanischen Elementen Erfolg beschieden, auch wenn Arno Schmidt Euler ihm rät, es statt mit wackeren Schmidt-Plagiaten lieber mit Erzählungen zu versuchen.

Was ist aus dem Geist der 60er und der herrschaftsfreien Kommunikation, den Schwabinger Unruhen und der Studentenrevolte geworden? Reiste man damals noch im geliehenen uralten VW-Käfer Cabrio einer Freundin, nennt Euler heute ein neues Saab-Cabrio sein eigen. Doch:

„In seinem Erzählen war keine Spur von Renommieren, in seiner Inbrunst, mit der er über Elefanten, Turbane und Müllabfuhr redete, wurde mir seine damalige Arno-Schmidt-Begeisterung wieder gegenwärtig.“

Doch vielleicht wird eben dieser Euler Schluss machen mit der Idylle hinter des Erzählers Haus und „dahinter die Wiesen mit den schwarz-weißen Kühen“ – die Mülldeponie könnte nämlich genau dort gebaut werden, ganz gemäß des Schmidtschen Titels „Kühe in Halbtrauer“.

Das Hörbuch wird kongenial auf 3 CDs uns 170 Minuten vorgelesen von Burghart Klaußner.

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