Walter Kempowski – „Ein Kapitel für sich“

Rating: ★★★★☆ 

Nach und nach hat Walter Kempowski seine eigene Vergangenheit literarisch aufgearbeitet und daraus sein „Deutsche Chronik“ gemacht.

Wie isses nu bloß möchlich“ – bis die Literaturkritik sich überwand, Walter Kempowskis großartige Familiengeschichte ernst zu nehmen, brauchte sie Jahre.

Das Entstehen der Werke erfolgte nicht chronologisch, sodass das vorliegende Buch mit dem Gattungsbegriff „Roman“ im Jahre 1975 erschien, also erst einige Jahre nach Kempowskis ersten Erfolg „Tadellöser & Wolf“.

In diesem Buch arbeitet Kempowski seine acht Jahre dauernde Haft in Bautzen auf, wohin er auf Grund von Spionagevorwürfen noch von den russischen Besatzern im Jahre 1948 – zunächst für 25 Jahre – gemeinsam mit seinem Bruder Robert gebracht wurde. Auch die Mutter sollte als Mitwisserin für fünf Jahre ins Gefängnis Hoheneck kommen.

Denn im Jahre 1947 flieht Walter Kempowski mit Unterlagen über Demontagetätigkeiten der Russen in Ostdeutschland – sein Bruder Robert hatte darin Einblick, weil er die Reederei seiner verstorbenen Vaters weiterführte – in den Westen und übergibt dieses Dokumenten den Amerikanern in Wiesbaden.

Als er im nächsten Jahr zurück nach Rostock kommt, wird er von den Russen wegen Spionage verhaftet. Im Gefängnis trifft er Robert wieder. Beide kommen ins Arbeitslager, und auch Margarethe wird verhaftet. Davon erfahren ihre Söhne jedoch zunächst nichts, weil der Kontakt unter den Gefangenen verboten ist.

Gleich am Tage nach seiner Entlassung schreibt er erste Erinnungsfetzen nieder. Im Jahre 1969 erscheint dann sein Erstling „Im Block“ als Erstfassung seiner Bautzen-Erlebnisse. Im vorliegenden Buch erweitert er diese um die Hafterlebnisse des Bruders und der Mutter. Stilistisch wird diese durch jeweilige Kapitel mit berichten aus Sicht der Mutter, des Bruders und ihm selber wiedergegeben. Briefe der Schwester Ulla im sicheren Dänemark und anderer Verwandter ergänzen den Bericht.

Kempowski verzichtet dabei fast vollständig auf direkte Klage und Anklage – er lässt die Texte für sich sprechen, etwas was er später weiter zu seiner Collage-Technik weiter ausbauen sollte. Auch sprachlich ist dieses Buch von großer Nüchternheit.

„Primig“, um es im sprichwörtlich gewordenen Familienjargon der Kempowskis zu sagen, sind die Überlebensstrategien von Mutter, Bruder und ihm selber.

Mit seiner Spionagetätigkeit, empfand Walter Kempowski, hatte er besonders gegenüber seiner Mutter, aber auch gegenüber der Familie an sich, große Schuld auf sich geladen. Mit seiner Erinnerungsarbeit wollte er dies wieder gutmachen.

Es ist ihm gelungen, mehr geht nicht.

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