Thomas Mann – „Lotte in Weimar“

Rating: ★★★☆☆ 

In seinem Roman „Lotte in Weimar“ schreibt Thomas Mann über Johann Wolfgang von Goethe. Mit Goethe hat er sich wesensverwandt gefühlt und gar von einer «unio mystica» gesprochen. Mehrfach zitierte Mann ein modifiziertes Stifter-Wort: „Ich
bin nicht Goethe, aber einer von seiner Familie“. In vielen Zügen ist das Portrait Goethes gleichzeitig auch das Selbstportrait Thomas Manns.

Unverkennbar, dass Thomas Mann in den unterschiedlichen
Goethe-Figurationen immer wieder auch sich selbst spiegelt, hinter dieser Camouflage
somit viel von sich selbst preisgibt. Und was Thomas Mann von und über Goethe im Verlauf von mehr als 400 Druckseiten schreibt, macht erst dann Sinn, wenn man weiß, was das alles mit Thomas Mann zu tun hat.

Wie in vielen seiner Texte benutzt Mann besonders in diesem Roman eine Vielzahl „einmontierter“ Textelemente: Zitate und nicht deklarierte, versteckte wörtliche Entlehnungen aus Lexikon- und Zeitungsartikeln, aus eigenen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, aus philosophischer, medizinischer und theologischer Fachliteratur. Die aktuelle Plagiatsdebatte hätte ihre wahre Freude an Manns Verfahren der intertextuellen Montage ‚verzettelter‘ Texte.

Der „Plot“ des Romans ist schnell erzählt: Die gealterte und verwitwete Charlotte Kestner, geb. Buff aus Wetzlar, das literarische Vorbild für Lotte in den „Leiden des jungen Werther“, trifft, aus Hannover kommend, mit ihrer Tochter Klara in Weimar ein, vorgeblich, um ihre Schwester zu besuchen, eigentlich aber in der Hoffnung, Goethe noch einmal zu sprechen. Der Hausdiener erkennt sie, als sie den Meldezettel ausfüllt, als „Werthers“ Lotte wieder.

Charlotte Kestners Aufenthalt in Weimar, 44 Jahre nach dem Erscheinen des „Werther“, ist historisch verbürgt. Der Roman ist jedoch keineswegs eine Weiterführung der „Leiden des jungen Werthers“, sondern das fiktive Nachspiel des gescheiterten und in der Erinnerung nicht wieder belebbaren Wetzlarer Idylls des jungen Goethe mit Charlotte Buff.

Das Werk entstand laut Tagebuch zwischen dem 11. November 1936 und dem 25. Oktober 1939 im amerikanischen Exil. Aus welchem Grunde Mann kurz vor, während und nach der Übersiedlung ins amerikanische Exil daraus einen ganzen Roman gemacht hat – Goethe selbst hatte nur zwei lapidare Notizen für Charlotte Buffs Besuch übrig („Mittags Ridels und Madame Kestner” / „Hofrätin Kestner aus Hannover”) – hat seinen Grund wie bei Goethe möglicherweise in den vielen Jahren, die zwischen den „Bestsellern“ Werther bzw. Buddenbrooks und den späteren Werken liegen – beide hatten große Schwierigkeiten an den Erfolg dieser Werke anzuknüpfen.

Mann arbeitete gerade an seinem gewaltigen Josephromanepos und unterbrach die Arbeit dran offenbar gerne für dieses eher „leichte“ und teilweise komödiante Stück. Als Novelle geplant lief ihm dann das Buch zeitlich aus dem Ruder. Wie in kaum einem anderen Werk gerät ihm das Ganze dann leider zu einer extrem geschwätzigen und seichten „Salonkonversation“ – und genau diese macht das Werk oftmals schwer erträglich.

Mit diesem Exilroman erforscht Mann mit einem Blick auf Goethe auch das Phänomen des Prominentendaseins. Beiden geht es um das Verhältnis von Kunst und Leben – die beiden Genies wähnten sich immer auch als Opfer ihres Werks. Gleichzeitig zieht Thomas Mann Parallelen zu Goethes Distanz zu den Befreiungskriegen, seine Indifferenz gegenüber dem Nationalen und dem Unverständnis seines Publikums gegen seine späteren Werke. Wie Goethe fühlte sich auch Mann in seinem Lande unverstanden.

Doch wäre das Buch als „Goethe-Roman“ ein Missverständnis. Vielmehr ist es eine Kakophonie verschiedener Stimmen und Personen, mit Hilfe derer Thomas Mann sich einmal mehr selbst reflektiert, mal als Sekretär Riedel, mal als Sohn August, oft und viel als Lotte – mal arrogant, mal devot, mal gering.

Der Roman liegt auf 13 CDs und 16 Stunden auch als ungekürztes Hörbuch, vorgelesen von Gert Westphal vor – was natürlich immer eine große Erbauung ist!

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