Judith Schalansky – „Der Hals der Giraffe“

Rating: ★★★★☆ 

Der Roman umfasst einen Zeitraum von nur drei Tagen –  in drei Kapiteln. Die Kapitelüberschriften für die drei geschilderten Tage, „Naturhaushalte“, „Vererbungsvorgänge“ und „Entwicklungslehre“, sind links neben den jeweils abgehandelten Themen immer als Rubriken in der Kopfzeile rechts angegeben.

Inge Lohmark hat keinen leichten Beruf. Natürlich ist sie zynisch geworden wie viele Lehrer – immerhin unterrichtet sie seit mehr als 30 Jahren Biologie am nahc der Wende umbenannten „Charles-Darwin-Gymnasium“ in einer Kleinstadt im hinteren Vorpommern. Sie unterrichtet die Letzten ihrer Art in den Gesetzen der Natur.

Denn es gibt nicht mehr genug Kinder in dieser von Wegzug, Rückbau, Arbeitslosigkeit geprägten Region. Die Vision, dass die Vegetation die Stadträume zurückerobern und am Ende die Natur stärker sein wird als alle menschliche Kultur mit ihren flüchtigen Hervorbringungen, ist hier nicht so leicht von der Hand zu weisen.

Gerade zwölf Schüler hat die neunte Klasse noch. Wenn dieser Jahrgang in vier Jahren fertig ist, wird die Schule geschlossen. Sie will nicht mehr umziehen. Das Rentenalter ist bald erreicht. Ihre Schüler Kevin, Jeniffer, Saskia und wie sie alle heißen betrachtet sie nur mit dem kühlen Blick der Biologin und übersieht dabei – ausgerechnet an dieser Schule – in welche Richtung die Gesetze Darwins längst zu wirken begonnen haben.

Bis dahin wird Inge Lohmark diesem „Nachschub fürs Rentensystem“ aber noch beibringen, dass im Überlebenskampf nur eine Chance hat, wer sich an die Verhältnisse anpasst, denn bei der „Charles Darwin Schule“ ist der Name Programm. Die darwinistische Weltanschaung entspricht der Weltanschauung der Bio-Lehrerin Lohmark kongenial. Alles hat seinen Sinn und dient der Erhaltung der Art. Die Ehe? Eine Zweckgemeinschaft. „Man blieb ohnehin nur deshalb zusammen, weil die Aufzucht der Jungen unendlich aufwendig war.“ Wer die Gesetze der Natur verinnerlicht, ist gegen Enttäuschungen oder andere, dem Überlebenskampf nicht zuträgliche Regungen, gefeit.

Dass sich daraus eine gewisse emotionale Kälte – nicht nur – gegenüber ihren Schülern ergibt, ist konsequent. Doch als sie geflissentlich übersieht, dass ein Kind aus ihrer Klasse von den anderen Kindern „gemobbt wird, hört bei ihrem Schulleiter der Spaß auf. Schon bei einer Beurteilungsstunde war Inge Lohmark „Kreidelastiger Unterricht. Mangelhafte Sozialkompetenz. Verknöcherte Persönlichkeit“ attestiert worden.

„Survival of the fittest“ – das Überleben der Angepasstesten – scheint unter Schülern ebenso wie unter Lehrern eine Hauptantriebsfeder zu sein. Doch statt Entwicklung ergibt sich bei Inge Lohmark Stagnation.

Nicht nur, dass die Schule in vier Jahren mangels Kinder in der schrumpfenden Kreisstadt von MV schließen wird, auch sie selber Lohmark ist die letzte ihrer Art. Ihr Mann züchtet als ehemaliger Besamungstechniker nun angepasst Strauße im MV. Ihr einzige Tochter hat sich abgenabelt und in die USA verflüchtigt.

Als Gattungsbegriff verwendet Judith Schalansky das Wort „Bildungsroman“. Die Autorin schlägt damit wohl eine ironische Brücke zu dem Prototyp dieses Genres: zu Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Ein „Bildungsroman“ ist das Buch aber auch im wortwörtlichen Sinn, nämlich als ein bebilderter Roman. Judith Schalansky ist gelernte Typographin und Buchgestalterin. Sie hat ihr neues Buch mit detailgenauen Zeichnungen von Seekuh, Quallen, Flugsaurier, Fischen usw. angereichert und es damit wie ein richtiges Biologiebuch angelegt.

Dass das Buch dabei auf charmante Art von der Autorin selbst und wohl in Anspielung auf die klassische Optik des alten Aufbau Verlags gestaltet wurde, spricht nicht nur für Judith Schalansky, sondern zeigt ganz darwinistisch, dass selbst der Suhrkamp Verlag auch optisch hochwertige (im „Retro-Look“) Bücher machen kann.

Dieser Beitrag wurde unter 4 Sterne, Roman abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.