Karlheinz A. Geißler – „Alles hat seine Zeit“

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Wenn es in Deutschland jemanden gibt, der umfassend über das Thema „Zeit“ informiert ist, dann Karlheinz A. Geißler.

Als ehemaliger Professor für Wirtschaftspädagogik  hat er sich ausgiebig mit dem Faktor Zeit beschäftigt. Viele Bücher sind daraus entstanden, mit denen er über das Thema  informiert. Denn es ist angesichts unserer endlichen Existenz angebracht,  zuweilen über das Phänomen Zeit nachzudenken.

Nun hat er sein philosophisches „Alterswerk“ herausgegeben – und nehmen wir es gleich vorweg: Es ist sein bestes Buch geworden! Denn frei nach Søren Kierkegaard wird das Leben vorwärts gelebt aber nur rückwärts verstanden.

Unter dem Titel „Alles hat seine Zeit, nur ich habe keine“ nimmt uns Geißler auf 250 Seiten mit auf eine Reise durch eine Geschichte der Zeit. Sein Ziel verrät er im Untertitel: „Wege in ein neue Zeitkultur“.

In vier Hauptkapiteln fasst Karlheinz Geißler sein jahrzehntelanges Wissen zusammen:
– Die Zeit in der Vormoderne
– Die Zeit der Moderne
– Die Zeit der Postmoderne
– Wege aus der Zeitfalle

Der Autor nimmt uns mit auf eine Tour d’horizon der Zeit. Zeit ist für die meisten Menschen wie das Wasser für die Fische – man schwimmt darin, ohne sich je Gedanken darüber zu machen.

Die Wahrnehmung und Bedeutung der Zeit sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. War man einst gar nicht in der Lage, ein (genaues) Datum zu benennen, und musste man sich an Zeitmarken wie Dynastien orientieren („Und es begab sich aber zu der Zeit …“), so war die Erfindung der Uhr so etwas wie eine Zäsur im bis dahin eher beschaulichen Leben der „zeitlos“ glücklichen Menschen: Die Uhr ersetzt seit etwa dem 15. Jahrhundert die natürliche Zeitordnung. Die bis dahin himmlische Zeitordnung wird dadurch eine irdische. Gott geht in zeitlicher Hinsicht aufs Altenteil und die Mächtigen im Lande werden zu Zeitbevollmächtigten.

Bald schon wird Zeit zum Äquivalent des Tauschmittels Geld erklärt – und das Verbot des Zinses für Christenmenschen fällt, um noch mehr Geld und Zeit zu gewinnen.

Inzwischen sind wir in der „Alles-zu-jeder-Zeit“-Epoche angekommen. Vergleichzeitigung heißt die neue Geißel der Menschheit. Der Homo simultans ist geboren.

„Dass die Menschen für die Industriegesellschaft funktionieren, hat die Uhr besorgt, dass sie für die Zeitverdichtungsgesellschaft funktionieren, dafür sorgen Mobiltelefon und Internet.“

Die Abkehr vom heiligen zum eiligen Geist hinterlässt deutliche Spuren in einer gehetzten Gesellschaft. Sie glaubt nun, sie könne Zeit „verlieren“, „gewinnen“, „managen“ oder „sparen“. „ADHS“ oder „Burn-out“ lauten die neuen medizinischen Befunde. Der moderne Mensch wird immer ungeduldiger, sprunghafter, vergesslicher und unsozialer:

„So ist es denn auch kein Wunder, dass sich der Simultant für seinen Blackberry, sein Notebook, sein iPhone und sein iPad mehr Zeit nimmt als für seine Freunde und Freundinnen, Ehefrau und Kinder zusammengenommen.“

Qualitativ ist seit etwa eintausend Jahren vieles anders geworden: War die Zeit einst für Äonen allein und uhrzeitlos in der Hand der Götter, hernach für einige Hundert Jahre in der Hand der Aufseher, so erleben wir nun schon wieder einen Quantensprung, wenn das Zeitdiktat in die Hand eines jeden Menschen selbst gelegt wird. „Flexibilität“, „Zeitverdichtung“, „Vergleichzeitigung“ und „Entgrenzung“ heißen die Schlagworte dieser neuen Epoche.

Wir sind (noch) nicht am Ende der Zeit, jedoch am Ende der Veruhrzeitlichungsepoche angelangt.Die Uhr hat ihre Zukunft damit bereits hinter sich – das Smart-Phone übernimmt nun die Rolle des Leitinstruments. Damit und durch das 24 Stunden geöffnete Internet ist der Mensch unabhängig von Raum und Zeit. Der traditionelle Arbeitsplatz verliert seine Bedeutung. Die Grauzone zwischen Wohnort und Arbeitsstätte wird größer und damit die klare Grenzziehung von „Arbeit und Leben“. Diese Entgrenzung von Raum und Zeit ist das bestimmende Parameter des 21. Jahrhunderts.

Nun hat der postmoderne Mensch „keine Zeit“ mehr und der abendländische Zivilisationsprozess zeichnet sich „durch eine Transformation von äußeren zu inneren Zwängen, eine Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge aus.

Nun klagt der moderne Mensch über „Zeitnot“, „Zeitdruck“, „Zeitmangel“ oder „Zeitprobleme“. Doch Geißler warnt: „Es zählt zu den großen Irrtümern unserer Existenz, durch mehr Tempo mehr Leben ins Leben bringen zu können.“ (…) „Wirkliche Freiheit gedeiht nur auf dem fruchtbaren Boden des Zeithabens und des Zeitlassens.“

Schnell ist nur Quantität, niemals Qualität – und wer schnell sein will, ist oft nicht schneller am Ziel, sondern nur rascher am Ende. Was wir alle brauchen, ist Zeitqualität.

„Wir sind nun mal auf der Welt, um Zeit zu leben, einfach zu leben, nicht auf der Welt sind wir, um uns Gedanken darüber zu machen, wie man die Zeit nützlich und gewinnbringend hinter sich bringe.“

Diesem zeitlosen Gedanken ist nichts, aber auch gar nicht mehr hinzuzufügen!

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