Eugen Ruge – „In Zeiten des abnehmenden Lichts“

Rating: ★★★★★ 

Warum nur erinnert mich dieser hervorragende Roman nur so an die Werke von Gabriel García Márquez, an „Hundert Jahre Einsamkeit“ oder „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ (merken Sie schon im Titel die Allusion)? Sicher nicht, weil ein kleiner Teil der Geschichte in Mexico spielt. Es sind vielmehr die übereinander verschobenen Zeitschichten des Werks an sich.

Eugen Ruge beschreibt DDR-Geschichte von 1952 bis 1989, eine sich über vier Generationen erstreckenden Familiensaga, die insgesamt bis ins Jahr 2001 reicht.Es ist die wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie.

Zwecklos, das gesamte Personal des Romans hier aufführen zu wollen, Eugen Ruge lässt dafür zu viele Figuren auftreten und wiederkehren. In der Reihenfolge abnehmenden Alters agieren vor allem:

– Wilhelm und Charlotte Powileit (Urgroßeltern; Charlotte, geschiedene Umnitzer)
– Nadjeshda Iwanowna (Mutter von Charlotte)
– Werner und Kurt Umnitzer nebst Frau Irina (Großeltern)
– Alexander Umnitzer (deren Sohn und alter ego Egon Ruge)
– Urenkel Markus Umnitzer (Sohn Alexanders)

Wilhelm, der Großvater der Hauptfigur Alexander, war 1919 in die Kommunistische Partei eingetreten. An seinem 90. Geburtstag wird man ihm zu seiner 70-jährigen Parteizugehörigkeit den vaterländischen Verdienstorden überreichen.

Großmutter Charlotte schrieb bis 1952 Beiträge für das „Neue Deutschland“ aus dem mexikanischen Exil. Alexanders Vater Kurt, ein Intellektueller, der viele Jahre im sowjetischen Arbeitslager inhaftiert war, arbeitete sich jahrzehntelang an der „Geschichte der Deutschen Arbeiterpartei“ ab. Alexanders Mutter Irina stammt aus Russland, Kurt und sie waren 1956 aus der Sowjetunion in die DDR gekommen.

Ruge erzählt aus sich ständig wechselnden Perspektiven: Über eine Familie im mexikanischen Exil, in der Sowjetunion und in der DDR – wobei im Zentrum das Fest zum 90. Geburtstag des Familienpatriarchen steht. Doch wenn am 1. Oktober 1989 der 90. Geburtstag des kommunistischen Großvaters gefeiert wird, wird klar, dass hier etwas auseinanderbricht: Ist der Großvater noch eingefleischter Parteigänger und der Vater immerhin noch jemand, der sich arrangiert, wird der Enkel zum Republikflüchtigen, während sich der der Urenkel nu rnoch für Saurier interessiert.

Die Utopie des Sozialismus und ihr Scheitern ist der rote Faden des Romans. Das „abnehmende Licht“ im Titel bezieht sich denn vermutlich auch auf die Verheißungen der kommunistischen Idee. Das Licht (die Elektrifizierung der Sowjetunion) war seit Lenin mit der Fortschrittsidee verbunden und „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Brüder zum Lichte empor“, sang die deutsche Arbeiterbewegung,

Es gibt eine Reihe von Szenen, die dem Leser aus anderen Bücher wie „Der Turm“ bekannt vorkommen mögen: Grundausbildung beim DDR-Grenzschutz, Trabbifahren, Weihnachtsfeste, Tauschhandel, schlechte Restaurants. Doch nie ureilt Ruge, weder über seine Figuren, noch über Systeme an sich. Und nie ist sein Roman ein politischer. Es ist vielmehr eher ein melancholischer Text über die Vergänglichkeit, die letztlich noch jede Ideologie relativiert hat.

Wir erleben einen modernen „Buddenbrook-Roman“, der die Geschichte und den Verfall einer Familie aus dem intellektuellen Establishment der DDR beschreibt. Es ist in Teilen wohl Eugen Ruges eigene Familiengeschichte, denn der 1954 in Soswa östlich des Urals geborene Ruge kam als Kind mit seinen Eltern zurück in die DDR.

„Wer bestimmt, was die Wahrheit ist?“, fragt Kurt in die Runde der Geburtstagsgäste. Er bekommt keine Antwort. Und das ist vielleicht die letztliche Botschaft dieses vielseitigen und faszinierenden Romans, der die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts nach seinen Ideologien befragt. Herausgekommen ist ein umfassendes literarisches Stimmungs- und Milieubild der DDR.

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