Walter Kempowski – „Somnia“

Rating: ★★★★☆ 

„Meine Tage sind ein wüstes Ankämpfen gegen die Zeit.“ schreibt Walter Kempowski. Wohl wahr, denn kaum einer hat so manisch mit dem Sammeln von Dokumenten und Dingen versucht, die Zeit festzuhalten, wie Walter Kempowski.

Seine Tagebücher galten ihm, neben den Romanen und dem ‚Echolot‘, als dritte Säule seines Schaffens. Er könne gar nicht begreifen, dass es Schriftsteller gäbe, die kein Tagebuch führten. Täglich notiert er mit seismographischer Empfindlichkeit die andrängenden Ereignisse und versucht der kleinen und großen Tragödien im Hause Kreienhoop Herr zu werden.

Nach ‚Sirius‘ (1990), ‚Alkor‘ (2011) und ‚Hamit‘ (2006) erscheint mit ‚Somnia‘ (2008) das vierte (bzw. fünfte, wenn man „Culpa“ aus dem Jahre 2005 mit hinzurechnet) – 2012 erscheint dann von Dirk Hempel herausgegebene „Wenn das man gut geht“ über die Jahre 1956 – 1970) und letzte Tagebuch, das Walter Kempowski noch zu Lebzeiten fertigstellen konnte.

„Somina“(= „Träume“) umfasst das Jahr 1991 und ist als Titel wohl so zu verstehen, dass er einerseits seine Träume, die er morgens penibel notiert, aber auch seine Sehnsüchte umfasst. Er schreibt: „Ich würde gerne den Ausblick zeigen, den ich von der Pritsche aus hatte: den Blick auf „Somnia“, das runde Fenster gegenüber.“

Bis zu seinem Tod hat Kempowski sich als Ausgegrenzter empfunden. Keiner plaudert freimütiger aus der Mördergrube seines Herzens als Kempowski. Eifersüchtig wacht er über jeden Kollegen, der mehr öffentliche Zuwendung  oder Anerkennung erhält als er.

Die Jahre in Bautzen haben vieles in ihm zerstört. Er geriet aus der Bahn seines bis dahin behüteten bürgerlichen Lebenswegs. Kein Abitur, keine Ausbildung, kein Geld. Der Hass auf die „Sozis“ bleibt ein Leben lang. Und er schmollt wie ein kleines Kind. Und ein Kind ist er seinem Wesen nach immer geblieben.

Die Tonlagen, die Kempowski anschlägt, sind hoch und tief, komisch und ernst. Es sind Emotionen, Ressentiments, Empfindlichkeiten, Verstimmungen, Rechthabereien, von denen die über 500 Seiten handeln.

Schlechte Laune hat Kempowski besonders, wenn er sich von Kollegen geschnitten fühlt: „Man müsste diese Leute einfach mal fragen: ,Sagen Sie mal, was liegt eigentlich gegen mich vor? Gibt’s Akten?‘” In der Tat, die anderen großen deutschen Gegenwartsschriftsteller, diese Rasse- und Alphatiere, haben ihn nie als ihresgleichen anerkannt, ihn, den in jeder Hinsicht kleinbürgerlichen Kollegen, diesen kleinen norddeutschen Dorfschullehrer aus Rostock und ehemaligen Bautzen-Insassen, ihn nie in ihre Kreise aufgenommen, ihn nicht einmal wahrgenommen!

Das Goethe-Institut lädt alle anderen zu Lesungen ein, nur nicht ihn. Jeder Depp darf nach Rom in die Villa Massimo, nur er nicht. Kempowski führt darüber genauestens Buch. Das alles schmerzt zu Recht, sitzt tief – und führt oft zu Selbstzweifeln.

Lange Jahre war das Geld knapp, die ersten Bücher haben noch keine hohe Auflagen. Erst „Tadellöser & Wolff“ bringt den Durchbruch, wird verfilmt. Kempowski braucht auch das Geld der vielen und oft unsäglichen Lesereisen: „Finanziell ist so etwas äußerst effektiv, und die Anstrengungen sind minimal. Darüber hinaus wird das Selbstwertgefühl täglich gestärkt.“

Dann erhält er den Lehrauftrag in Oldenburg, braucht dafür nicht mehr in der Schule zu unterrichten, welch Segen! Doch auch hier nach zehn Jahren ein warmer Händedruck vom Rektor, sonst nichts. Kempowski ist rasend enttäuscht.

Gute Laune hat er hingegen schon, wenn ihn überhaupt irgend jemand wahrnimmt: „Sind Sie Kempowski?“ Oder: „Der Flughafenmensch in Bremen erkannte mich und gab mir einen besonders guten Platz am Notausgang.”

Kempowski weiß, dass er sich vor allem selbst im Wege steht, aber er kann nicht aus seiner Haut, dieser humorvolle, aber auch eitle und pedantische Dichterkauz und Spießer:
„Es ist mir ein Rätsel, wieso dieses Buch kein größerer Erfolg wurde. Hildegard findet es ‚gar nicht so schlecht‘. Bei ihrem Vorlesen stört mich, daß sie meist schon nach zwei Seiten einen Gähnkrampf kriegt. Neuerdings gähnen sogar die Hunde, wenn ich mit dem Ms. erscheine.“

Kaum ein anderer Autor hat so offenherzig über seine niederen Regungen geschrieben:
„Jetzt, wo der Spuk vorüber zu sein scheint, packt mich erst die kalte Wut über das 68er Intellektuellenpack. Ich hätte die größte Lust, den ,Alkor‘ zum Abrechnungsbuch zu machen, würde mich nicht scheuen, denunziativ zu werden. Die Liste ist lang genug.”

Und kaum jemand hat die Öffentlichkeit – auch zu Lebzeiten im Kreienhoop mit vielen Literaturseminaren usw. – an seinem Leben teilhaben lassen. Dennoch fühlt er sich oft allein: „Jedesmal, wenn das Haus von Besuchern bevölkert wird, denke ich, es muß doch
möglich sein, in diese Menschenseelen einzudringen, ihnen näherzukommen, Kontakt
herzustellen?“ Und: “Da kennt man Tausende, und niemand, den man rufen könnte.”

Erst gegen Ende seines Lebens erfährt er die Anerkennung, die er sich immer gewünscht hat – weniger als Autor, sondern Archivar der Zeit. Es war also doch nicht „Alles umsonst“!

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