Karlheinz A. Geißler – „Enthetzt Euch!“

Rating: ★★★★★ 

Ausgangspunkt des neuen Buches von Karlheinz A. Geißler ist der Unterschied und der Umstieg von der quantitativen zur qualitativen Zeit, von der Uhrzeit zur Naturzeit also. Es geht dabei um nichts weniger und nichts mehr als die „polyrhythmische Synchronisation“!

Denn der Autor wendet sich im Prinzip nicht gegen die allgemeine Beschleunigung – es führe eben kein Weg vom Gekochten zurück zum Rohen (frei nach Levi-Strauss). Im Gegenteil: Schnell sein, sei oft schlicht überlebensnotwendig. Deshalb hält er auch nichts vom epidemisch grassierenden Begriff der „Entschleunigung“ – und setzt diesem deshalb seinen eigens kreierten, sperrigen Begriff der „Enthetzung“ entgegen.

Das zunehmende Tempo werde vor allem durch die parallel entstehende Vergleichzeitigung von Tätigkeiten zur Belastung für den modernen Menschen – bereits vor Jahre sprach er vom Homo simultans, bzw. Simultanten. Goethe schuf dafür einst den Kunstbegriff „veloziferisch“ (komponiert aus velocitas – Geschwindigkeit – und Lucifer).

Die durch mediale Omnipräsenz und globale Erreichbarkeit endlosen und pausenlosen Tage sind das Problem. Es sind die rastlose Unruhe und Ungeduld, die den Menschen das Paradies gekostet haben und ihnen den Weg dahin zurück versperren. „Enthetzt Euch!“ bedeute, Schluss zu machen mit der Übernutzung von Zeit und die Produktion überflüssiger Beschleunigung und dem Wunsch nach mehr zu stoppen.

Geißlers Zeitkritik geht zunehmend einher mit einer Kritik der herrschenden Verhältnisse: Denn „Alle Ökonomie ist Ökonomie der Zeit“ – befand schon Karl Marx vor mehr als 150 Jahren. Darin liegt für den Rezensenten auch die Stärke dieses neuen Buches. Die Zeit-ist-Geld-Logik „bestraft jene Personen, die die sich Zeit lassen, die fürsorglich mit ihren Mitmenschen, mit der Natur, dem Klima und sich selbst umgehen.“

Für den Autor zählt es zu den großen Irrtümern unserer Zeit, mittels Beschleunigung und Zeitverdichtung mehr Leben ins Leben bringen zu wollen. „Dass die Steigerung des materiellen Wohlstands auch zu einer Steigerung des subjektiven Wohlbefindens führt, hat sich als Illusion erwiesen.“

Es verwundert es nicht, dass er kein Freund eines „Wachstumsbeschleunigungsgesetzes“ ist und hält es lieber mit der Deutschen Bahn, die er als „das erste erfolgreiche Entschleunigungsunternehmen“ bezeichnet – mir scheint, der Vogel hat Humor!

Karlheinz Geißler hat in seinem neuen Buch auf über 200 Seiten viele bereits veröffentlichte Artikel verarbeitet, die seit seinem letzten Werk erschienen sind – ein überwiegend kumulatives Buch also. Obwohl alle Beiträge im weitesten Sinne zum Thema passen, wirken die Übergänge zwischen den Kapiteln deshalb manchmal etwas holprig. Doch der Autor hatte durch diese optimale Textverwertung immerhin einen reduzierten Aufwand – Zeit gespart hat er nach eigener Diktion damit hingegen nicht!

Was es mit den Rhythmen auf sich hat, erklärt Autor Geißler zum Ende seines Buches. Ihm geht es um die Achtung der naturgegebenen Rhythmen, über die sich auch der moderne Mensch nicht hinwegsetzen sollte. Polyrhythmisch bedeutet lediglich , dass mehrere Rhythmen gleichzeitig ablaufen (Jahreszeiten, Tag und Nacht, Puls usw.), und dass der Mensch sich nach diesen allen richten (synchronisieren) muss und letztlich nicht daraus ausbrechen kann.

Wie belesen der emeritierte Professor für Wirtschaftspädagogik ist, zeigen die vielen Zitate und Bonmots berühmter Zeitgeister. Das Spektrum reicht von Goethe über Hegel und Walter Benjamin zu Karl Valentin und Heinz Erhardt und beweist damit sowohl Tiefsinn wie auch gerade mit letzterem Autor Humor:

Das Reh springt hoch,
Das Reh springt weit,
Warum auch nicht,
Es hat ja Zeit.

Seine Empfehlung für an „Angina temporis„und „Hochgeschwindigkeitsökonomie“ leidende Zeitgenossen lässt er daher auch Goethe formulieren, „damit der Mensch sich selber nicht versäume“ (Schiller):

„Mein Rat ist daher, nichts zu forcieren und alle unproduktiven Tage und Stunden lieber zu vertändeln und zu verschlafen, als an solchen Tagen etwas machen zu wollen, woran man später keine Freude hat.“

Lassen Sie sich also überraschen und erfahren Sie mehr, was es mit dem Phänomen Zeit auf sich hat! Der Rezensent befolgt derweilen intensiv das, was der Autor empfiehlt: Er macht eine Pause und langweilt sich dabei außerordentlich!

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Eine Antwort zu Karlheinz A. Geißler – „Enthetzt Euch!“

  1. Lieber Karl-Heinz,

    danke für diese tolle Rezension. Macht unglaublich Lust das Buch zu lesen und ist auch schon bestellt !!
    Meine besondere Aufmerksamkeit hatten die Passagen „Umstieg von der quantitativen zur qualitativen Zeit, von der Uhrzeit zur Naturzeit“ und „grassierenden Begriff der “Entschleunigung” – und setzt diesem deshalb seinen eigens kreierten, sperrigen Begriff der “Enthetzung” entgegen“..
    Ich bin jedenfalls sehr gespannt !!

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