Walter Kempowski – „Alkor“

Rating: ★★★★½ 

Kränkungen und Verletzungen, sind oft der Motor großer Werke. Walter Kempowski weiß das: „Daß man mich ganz klein machte, ermöglichte es mir zu wachsen.“ Angesichts des begeisterten Empfangs ostdeutscher Bürger an den plötzlich offenen Grenzen ahnt er, „… wenn ich damals so begrüßt worden wäre, 1956, dann hätte ich kein einziges Buch geschrieben.“

Alkor, das ist der Name des kleinen Sterns im Sternbild „Großer Wagen“. Einst galt er als volkstümlicher Sehtest: Wer diesen kleinen Stern, auch „Reiterlein“ genannt, auf der Deichsel des Großen Wagens mit bloßen Augen erkennen konnte, hatte noch genügend Sehkraft.

Warum er seinem zweiten Tagebuch nach „Sirius“ (1990) diesen Namen gab, darüber schweigt sich der Autor aus. Natürlich hat er sich etwas dabei gedacht. Ist er gar selbst das „Reiterlein“? Und was soll das auf dem Rückem liegende Insekt (Grille? Heimchen?) auf dem Buchdeckel? (Hamit = Fliege; Sirius = Feder; Somia = Johannisbeeren).

Das Tagebuch umfasst das ganze Jahr 1989 und ist fast sechshundert Seiten stark. Kempowski leitet jeden Tag mit einer Schlagzeile der „Bild-Zeitung“ und des „Neuen Deutschland“ ein, ansonsten läßt er krauses Neben- und Durcheinander walten. Das Ende der DDR nimmt in den letzten Monaten dabei einen immer größeren Raum ein – zu Recht.

Kempowski arbeitet wie ein Berserker an drei Büchern gleichzeitig: „Echolot“, „Mark und Bein“ und „Sirius“. Daneben schafft er noch locker 600 Seiten Tagebuch „Alkor“ auf seinem maroden Olivetti-Schreibsystem – ein Titan! „Ich habe mein Leben zuerst verblödelt, dann verrast. Aber ein bisschen bleibt mir ja noch.“ Das Schreiben ist seine Lebensaufgabe:  „Vielleicht denkt er, man müsse sich zum Schreiben zwingen. Schreiben macht doch Spaß.“

Um seine Gesundheit ist es nicht gut gestellt. Immer wieder dieses tagelange „Leibschneiden“, das ihn zur Unproduktivität verdammt – und das ihn eines Tages das Leben kosten wird. Nur Erkältung prallen an ihm ab, nie länger als drei Minuten, das war’s dann.

Mit Inbrunst pflegt er auch seine Schriftsteller-Paranoia: Seine Kollegen schneiden ihn, das ZDF will nichts von ihm wissen und als politischer Flüchtling wurde er auch nie anerkannt. „Von mir geht die Meinung um, ich sei ein leichterer Unterhaltungsschriftsteller, nicht ganz so ernst zu nehmen.“

„Kempi“ – so darf im Rühmkorf nennen, ist genervt von apathischen Schulklassen, die seine Bücher gar nicht gelesen haben, von Volkshochschulkursdamen, die seine Bücher nur als Taschenbücher kaufen, von Studenten, die ihn für reaktionär halten oder von Journalisten, die ihm immer dieselben Fragen stellen: „Wo wurden Sie geboren?“ Manchmal überreagiert er dann, es kommt schon mal zu unkontrollierten und dem Anlass unangemessenen Wutausbrüchen („Kurzer Anfall von Jähzorn„), die er hinterher meist bedauert: „Nein, ich werde nie aufhören mich zu wundern über mein Leben.“ Die Ironie ist sein häufigstes Stilmittel, die auch vor ihm selber keinesfalls Halt macht: „Ich rauche nicht, ich trinke nicht – ich wüte!“

Ständig kommt unangemeldeter Besuch, der stets gastfreundlich empfangen wird. Manche bleiben gleich mehrere Wochen. Auch das geht durch. Warum tut er sich das selber an? „Es ist die Kontaktaufnahme zur Menschheit, eine Vergewisserung des Lebendigseins.“ Und Kempowski braucht ihr „Plankton“ – das sind die Kindheitseindrücke seiner Besucher, die er alle sorgfältigst notiert. „Lustgewinn durch Sammeln.“

„Als ein Volksschriftsteller zu gelten, hat etwas Tragisches an sich.“ Letztlich fühlt er sich ziemlich allein gelassen auf dieser Welt – wäre da nicht Hildegard, die ihm das Bett aufschlägt und auf kleinen Zetteln Gute-Nacht-Wünsche schreibt („ich wohne hier, meine Frau da drüben“). Er notiert: „Das Einsamkeitsgeschrei der Leute ist nicht zu ertragen, aber wenn’s einen selber erwischt, dann ist das auch nicht auszuhalten.“ Man spürt immer wieder diese Ambiguität: „Ich brauche eigentlich niemanden hier. Aber eine Kaffeestündchen oder eine gemütliche Runde gelegentlich.“

Und dann ist da noch die große Schuld, mit der er nicht nur sich selber, sondern auch seinen Bruder Robert, vor allem aber seine geliebte Mutter ins Zuchthaus gebracht hat. „So ist das Haus Fluchtburg, Gefängnis zugleich, eine Festung, die mir verhilft, das Sühnewerk zu vollenden.“

Ob er je Freunde hatte? „Ich bin ein Optimist, der sich nicht traut.“ Reisen unternimmt er nur ungern. „Ich möchte wohl gerne mal nach Ravenna. Aber es geht nicht mehr. Es ist zu spät.“ Da ist ihm sein Tagebuch Therapie: Seht her, so bin ich, so ängstlich, neidisch, geizig und auch noch total spießig. Aber seid ihr nicht auch ein wenig so?

Ach, fast hätten wir den letzten Satz vergessen: „Die Kleinwüchsigen sind es, die Geschichte machen. Hitler, Napoleon.“

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