W. G. Sebald – „Austerlitz“

Rating: ★★★★☆ 

Austerlitz ist der Ort in Mähren, an dem Napoleon 1805 Kaiser Franz II. und den russischen Zaren Alexander I. geschlagen hatte („Dreikaiserschlacht bei Austerlitz“). Austerlitz ist auch ein nach diesem Schlachtfeld benannter Pariser Bahnhof. Und schließlich ist Austerlitz die Hauptfigur in W. G. Sebalds letztem Roman, der im Frühjahr 2001, ein gutes halbes Jahr vor dem Unfalltod seines Autors erschien.

In diesem Roman erzählt W. G. Sebald – der wie der Ich-Erzähler Deutscher war und längere Zeit in England lebte – von dem aus Prag stammenden Juden, namens Austerlitz, der als Kind Name, Identität, Eltern, Muttersprache und Heimat verlor und in Wales als Dafydd Elias, Kind des calvinistischen Predigers Emyr Elias und dessen Ehefrau Gwendolyn aufwuchs.

Mit viereinhalb Jahren war Austerlitz im Sommer 1939 in der Liverpool Street Station in London eingetroffen und von dem Paar abgeholt worden. Im April 1949 erfährt Dafydd Elias von seinem Schulrektor, dass Dafydd Elias nicht sein richtiger Name sei und er auf die Examensarbeiten stattdessen „Jacques Austerlitz“ schreiben müsse. Auf diese Weise erfährt er, dass Emyr und Gwendolyn Elias nicht seine Eltern waren.

Im Jahre 1991 geht Austerlitz vorzeitig in den Ruhestand und forscht nach, woher er einst gekommen war. Jacques Austerlitz begibt sich dazu als Reisender an die ungewöhnlichsten Orte, um seiner Erinnerung bei der Suche nach seiner Herkunft auf die Sprünge zu helfen.

Im Sommer 1992 reist er nach Prag und lässt sich alle Personen namens Austerlitz heraussuchen, die 1934 bis 1939 in Prag gelebt haben. Es sind nur wenige. Bei der für Agáta Austerlitz angegebenen Adresse stößt er auf Vera Rysanová. Sie war in den Dreißigerjahren die Nachbarin von Agáta Austerlitz und erzählte Austerlitz nun von seinen Eltern.

Austerlitz erfährt, dass sein Vater Maximilian Aychenwald aus St. Petersburg stammt und dort bis zum Revolutionsjahr 1917 einen Gewürzhandel betrieben hat. Nach dem Ersten Weltkrieg ging er in die Tschechoslowakei und war aktiver Funktionär der Sozialdemokratischen Partei. Seit Mai 1933 lebte er mit der fünfzehn Jahre jüngeren Schauspielerin Agáta Austerlitz in Prag zusammen. Als das unverheiratete Paar einen Sohn bekam, bot Vera Rysanová an, sich um das Kind zu kümmern – und wurde Jacques‘ Kindermädchen.

Sie ist es auch, die ihn auf den Kindertransport nach England schafft, damit er nicht mit seiner Mutter ins Konzentrationslager geschickt wird, um in England statt dessen in  Adoption zu überleben.

Das Buch macht es dem Leser nicht einfach: In „Austerlitz“ treten zwei Ich-Erzähler auf. Der Autor ist einer von ihnen; er hält im Wesentlichen fest, was er von Austerlitz, dem anderen Ich-Erzähler, hört. Und der zitiert hin und wieder auch noch andere Ich-Erzähler.

Sebald gelingt mit diesem Werk nichts weniger als der Versuch, die europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts durch das Leben eines einzelnen Menschen zu erzählen.

Dieser Beitrag wurde unter 4 Sterne, Roman abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.