Uwe Johnson – „Jahrestage“

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Der vollständige Titel dieses epochalen vierbändigen Hauptwerks von Uwe Johnson (1934 – 1984) lautet: „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“, erschienen zwischen 1970 und 1983 im Suhrkamp-Verlag.

Der Roman spielt in Mecklenburg und New York. Er umfasst auf nahezu 2000 Seiten das Ende der Weimarer Republik, die Anfänge der DDR und die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 –  Johnson selber war 1959 von der DDR nach West-Berlin übergesiedelt.

In parallelen Handlungssträngen wird das gegenwärtige Leben der Gesine Cresspahl mit ihrer Tochter Marie in New York beschrieben, etwas, das Johnson leicht fiel, hatte er doch selber von 1966 bis 1968 mit seiner Familie in New York an der Upper Westside in Manhattan gelebt. Die Adresse – Apartment 204, 243 Riverside Drive, New York, N.Y. 10025 – ist identisch mit jenem Ort, an dem Gesine Cresspahl in New York City lebt.

Seit 1961 lebt die nun vierunddreißigjährige deutsche Fremdsprachen-Korrespondentin Gesine Cresspahl mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie in New York. Sie arbeitet in der Auslandsabteilung einer Bank. Ihr Freund Dietrich Erichson („D. E.“) arbeitet für die NATO. Doch so sympathisch „D. E.“ auch ist, noch immer trauert Gesine um ihre große Liebe, Maries Vater Jakob Abs, der 1956 beim Überqueren der Bahngleise in Jerichow von einem Zug erfasst worden ist. Immer wenn Gesine Beistand benötigt, stellt sie sich vor, Jakob sei bei ihr. Sie hält dann Zwiegespräche mit ihm.

In genau 366 Tageseinträgen – vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968, dem Tag der gewaltsamen Niederschlagung der Prager Bewegung durch die Truppen des Warschauer Pakts – erzählt  Gesine Cresspahl rückblickartig ihr Leben und das ihrer Familie. Jedem Tageseintrag sind  Zitate aus der New York Times vorangestellt.

Die zwei Handlungsebenen „New York“ und „Deutschland“ wechseln sich fortlaufend ab, manchmal von einem Satz auf den nächsten. Häufig, indem Gesine sich in der New Yorker Gegenwart an Ereignisse aus ihrer Vergangenheit erinnert.

Weil Tochter Marie beharrlich nach ihrem Vater fragt, fängt Gesine – zunächst widerstrebend – zu erzählen an. Sie beginnt mit ihren Eltern, mit dem Jahre 1888, dem Geburtsjahr ihres Vaters, dem Tischlermeister Heinrich Cresspahl, der einst nach Richmond bei London ausgewandert war.

Als Heinrich Cresspahl 1931 sich anlässlich der Hochzeit seiner Schwester für einige Tage in seine Heimat nach Mecklenburg aufhält, fällt ihm im Strandgasthof an der Travemündung ihm die fünfundzwanzigjährige Lisbeth Papenbrock aus Jerichow auf. Es ist Liebe auf den ersten Blick, und Lisbeths Eltern erklären sich angesichts der geordneten Verhältnisse mit der Heirat ihrer Tochter mit dem älteren Cresspahl einverstanden.

Als seine schwermütige Frau Lisbeth in Richmond Heimweh hat, kehrt Heinrich Cresspahl Anfang 1933 mit ihr nach Jerichow zurück, obwohl die Nationalsozialisten inzwischen die Macht übernommen haben und in Jerichow die Hakenkreuz-Fahnen wehen. Am 3. März 1933 kommt Tochter Gesine zur Welt.

Nach dem Krieg ernennen die Briten Heinrich Cresspahl zum Bürgermeister von
Jerichow. Als dann die Russen die Besetzung Mecklenburgs übernehmen, sperren sie den deutschen Bürgermeister im Lager Fünfeichen ein, weil er vor der Roten Armee Geflohenen geholfen hat.

Während er fort ist, kümmerte sich die 1945 mit ihrem siebzehnjährigen Sohn Jakob aus Pommern geflohene Witwe Gertrud Abs, die Cresspahl bei sich aufgenommen hatte, um dessen Tochter Gesine. Jakob Abs fühlt sich wie ein älterer Bruder Gesines, ohne zu ahnen, dass sich die fünf Jahre Jüngere in ihn verliebt hat. Als gebrochener Mann kehrt Heinrich Cresspahl Jahre später nach Jerichow zurück.

Während Gesine die Oberschule in Jerichow besuchte, studierte Jakob an der
Verkehrstechnischen Hochschule in Dresden und arbeitet später in Jerichow für die Deutsche Reichsbahn. Nach dem Abitur im Jahr 1951 studiert Gesine in Leipzig Anglistik. Der niedergeschlagene Aufstand vom 17. Juni 1953 bestärkt ihre frühere Mitschülerin Anita Gantlik in der Absicht, sich nach Westberlin abzusetzen. Sie überredet Gesine mitzukommen. In Frankfurt am Main schließt Gesine Cresspahl ihr Studium ab und beginnt für eine NATO-Dienststelle in Düsseldorf als Dolmetscherin zu arbeiten.

Im Auftrag des Vizepräsidenten ihrer Bank in New York soll Gesine Cresspahl nun nach Prag fliegen und mit dem Regime von Alexander Dubcek über einen Dollarkredit  verhandeln. Trotz aller Bedenken geht Gesine mit ihrer Tochter am 19. August
1968 an Bord eines Flugzeugs nach Europa. Doch in Kopenhagen endet die Reise vorzeitig, denn in der Nacht auf den 21. August marschieren Truppen der UdSSR, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei ein.

Mit dem Roman „Jahrestage“ knüpft Uwe Johnson an seinen 1959 veröffentlichten Roman „Mutmaßungen über Jakob“ an. Aus diesem kennt der Leser bereits die Figuren Gesine und Heinrich Cresspahl, Jakob und Gertrud Abs, ebenso wie den Stasi-Offizier Rohlfs und die fiktive mecklenburgische Kleinstadt Jerichow.

Margarethe von Trotta hat im Jahre 2000 den Roman kongenial mit Suzanne von Borsody, Hanns Zischler und Axel Milberg verfilmt.

 

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