Julie Orringer – „Die unsichtbare Brücke“

Rating: ★★★★☆ 

Wir schreiben das Jahr 1937. Der 22-jährige Andras Lévi ist als Jude in Ungarn durch einen bereits seit 1920 existierenden antisemitischen Numerus clausus vom Zugang zur Universität ausgeschlossen: Nur 6% der Studienplätze stehen für Juden zur Verfügung.

Also macht sich Andras mit finanzieller Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft auf den Weg nach Paris, wo er Architektur studieren möchte. Doch die Zeichen in Europa stehen auf Sturm: Kurz nach Studienbeginn friert die ungarische Regierung die Konten jüdischer Stipendiaten im Ausland ein. Andras Studium ist zunächst nicht gefährdet, denn seine Lehrer, darunter Le Corbusier, erkennen sein Talent und fördern ihn.

Als sein Studentenvisum im Jahre 1939 ausläuft, ist Andras gezwungen, die Heimreise anzutreten. Dort angekommen wird er wie alle jüdischen Männer in die berüchtigten Munkaszolgalat-Einheiten eingezogen, Strafbataillone der ungarischen Armee, aus denen viele nicht zurückkehren.

Die Liebesgeschichte zwischen Andras und seiner Frau Klara schleppt sich ebenso lange dahin wie die ihrer jüdischen Freunde. Was jedoch erheblich und einmal mehr zutiefst erschüttert, ist die Beschreibung eines sich kontinuierlich steigernden Antisemitismus – etwas, wofür Nachgeborene auch in Deutschland bis heute kein Verständnis aufbringen können. Und dass der angeblich zivilisierte Mensch noch zu jeder Greueltat bereit ist, bereitet weiterhin großes Unbehagen in der Kultur.

Gleichzeitig fragt sich der Leser, warum nicht mehr verfolgte Menschen damals geflohen sind, sich versteckt haben oder in den Widerstand gegangen sind. Stattdessen folgen sie gehorsam allen Anweisungen der Obrigkeit. Waren sie nur naiv oder haben sie ihrem christlichen Gott all zu sehr vertraut? Ganz gleich, beides ein schrecklicher Fehler, wie sich historisch herausstellen sollte. Wer nicht handelt, wird meist behandelt – und die Hoffnung stirbt zuletzt.

Das 800 Seiten starke Buch oszilliert zwischen der Beschreibung romantischer Liebesgeschichten und einem gut recherchierten Roman über die nationalsozialistischen Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts in Ungarn. Der Grat zwischen „Herz-Schmerz“ und historischem Roman ist schmal – manchmal rutscht die amerikanische Autorin ein wenig auf diesem aus.

Was jedoch bleibt ist die Fassungslosigkeit über das Grauen, das sich jederzeit auch in „zivilisierten“ Ländern wiederholen kann, wie wir unlängst im ehemaligen Jugoslawien miterleben konnten. Allein schon deshalb lohnt sich die Lektüre dieses Buchs.

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Eine Antwort zu Julie Orringer – „Die unsichtbare Brücke“

  1. Michael Kraus sagt:

    Die Lektüre des Buches habe ich nach den Paris-Kapiteln abgebrochen, weil ich mich zu sehr darüber geärgert habe, dass fast alles falsch und verzerrend ist, was dort über die ESA, Pierre Vago – den ich gekannt habe -, Auguste Perret und Le Corbusier zu lesen ist.

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