Marie-Sabine Roger – „Das Labyrinth der Wörter“

Rating: ★★★☆☆ 

Marie-Sabine Roger (*1957) , gelernte Erzieherin, begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahre 1980 mit Kinderbüchern. In diesem Roman aus dem Jahre 2010 beschreibt sie die Entstehung einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen Germain Chaze, einem Mann von Mitte 40 und Margueritte Escoffier, einer pensionierten promovierten Wissenschaftlerin, Mitte 80.

Germain Chaze, mit einem weichen „z“, ist, wie sein Name schon nahelegt, ein sanftmütiger Bär von Mann, der in einem französischen Provinzstädtchen von seiner schrillen, alleinstehenden und demenzgefährdeten Mutter täglich schikaniert wird. Sie nennt ihn „Esel“, „Idiot“ oder „Großer Trottel“. Er haust ohne Schulabschluss in einem Wohnwagen auf ihrem Grundstück und Gemüse an. Sein Geld verdient er als Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau und trinkt, wie das so üblich ist in Frankreich, gerne einen Aperitif im Bistro „Chez Francine“ mit seinen Freunden trinkt, die ihn wegen seiner geistigen Unbedarftheit gerne mal veralbern.

Als Germain und Margueritte eines Tages auf einer Parkbank beim Taubenfüttern ins Gespräch kommen, entwickelte sich eine Freundschaft zwischen dem unbeholfenen Germain und der kultivierten alten Dame, die zudem eine passionierte Leserin ist. Sie nennt ihn „junger Mann“, das erheitert ihn, doch „Alles ist relativ – nur durch seine Beziehung auf etwas bestimmt.“ Margueritte fängt an, dem des Lesens und Schreibens nahezu unfähigen Germain aus ihren Lieblingsbüchern vorzulesen und öffnet ihm damit den Zugang in die für ihn neue Welt der Literatur.

Selbst vor anspruchsvollen Titeln der Weltliteratur  schreckt Margueritte nicht zurück. Germain kann nur staunen: Zum ersten Mal in seinem Leben hat er das Gefühl, dass sich jemand für ihn interessiert. Als Margueritte ihm ein Wörterbuch („Le petit Robert“) schenkt, erschließt sich ihm eine neue Welt:„Ein Wörterbuch ist nicht einfach nur ein Buch, Germain. Es ist vielmehr als das. Es ist ein Labyrinth … Ein großartiges Labyrinth, in dem man sich voller Glück verirrt.“

Die Botschaft des Buches ist einfach: Von Ludwig Wittgenstein stammt die Erkenntnis: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Und wer sich durch das Labyrinth der Wörter einen Weg bahnt, den belohnt das Leben. „Wörter sind wie Schachteln, in die man seine Gedanken einsortiert„. Germain verbringt nun Abend für Abend in seinem Wörterbuch und gerät darob immer wieder ins Staunen.

Ansonsten handelt dieses charmante Buch von Respekt, Toleranz, Liebe, Freundschaft und Literatur, ohne den Anpruch, selber „große“ Literatur sein zu wollen.

Die textnahe Verfilmung mit Gérard Depardieu und Gisèle Casadesus ist ebenfalls empfehlenswert.

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