Ursula Krechel – „Landgericht“

Rating: ★★★★★ 

Zur Recht hat dieses Werk den „Deutschen Buchpreis“ im Jahre 2012 erhalten!

Der Titel ist doppelsinnig: Zum einen ist damit das Mainzer Landgericht gemeint, an dem der aus dem Exil zurückgekehrte Jurist Richard Kornitzer als Landgerichtsrat, später als Landgerichtsdirektor arbeitete; und zum anderen ist er als Gericht über ein Land und dessen Umgang mit Emigranten und den Opfern des Nationalsozialismus im Deutschland der fünfziger Jahre zu verstehen.

Nach ihrem 2008 erschienenen Buch „Shanghai fern von wo“ geht Ursula Krechel mit ihrem neuen Roman „Landgericht“ erneut auf Spurensuche – denn bei der Recherche für ersteres Werk machte die Autorin „Archivfunde, wie sie nur sehr guten Historikern glücken“ (aus der Laudatio zur Büchpreisverleihung): Richard Kornitzer, 1903 in Breslau geboren, ist in der Realität offenbar der Richter Robert Bernd Michaelis.

Nun wird mancher denken: Nicht noch ein Buch über die Nazi-Zeit! Ein berechtigter Einwand. Doch das Buch ist viel mehr dies: Eine Anklageschrift gegen das Nachkriegsdeutschland.

Geschichte ist am interessantesten, wenn sie wie am Beispiel einer Familiengeschichte nachvollziehbar ist. Das Buch – der Gattungsbegriff „Roman“ wird diesem historischen Zeitdokument eigentlich nicht gerecht – ist eine  akribische, aber einfühlsame Recherche. Viele Dokumente wurden offenbar wortwörtlich wiedergegeben.

Die Handlung teilt sich faktisch in drei Teile:
– Die Zeit bis zur Emigration im Nazi-Deutschland der 1930 Jahre
– die Zeit der Emigration in Kuba
– die Zeit nach der Rückkehr

Das Trauma des jüdischen Exils, erzählt anhand eines Richterschicksals, ist beeindruckend: Der Nationalsozialismus vernichtet die Existenzgrundlagen der Familie Kornitzer in kürzester Zeit. Der jüdische Richter Richard Kornitzer muss getrennt von seiner protestantischen Frau Claire aus Berlin ins Exil nach Kuba fliehen, während ihre beiden Kinder von einer Organisation nach England gerettet werden.

Der Leser erlebt, wie Richard Kornitzer sich während des Zweiten Weltkrieges im kubanischen Exil behauptet muss.

Zehn Jahre nach seiner Flucht kämpft Kornitzer, wieder in der Position eines Richters, um die ihm zustehende Besoldung, Wiedergutmachung, die Beziehung zu seiner Frau und die Rückkehr seiner Kinder. Hier zeigt sich dann zum einen, welch niedrige Priorität die Wiederaufnahme der Vertriebenen in der sich gerade bildenden Bundesrepublik genoss.

Denn die Schilderung der alsbaldigen Rückkehr der alten Nazis in die Justiz der Bundesrepublik ist erschreckend. Es braucht keine zehn Jahre, um die alten Mächte zu restaurieren – das Kontiunuitätsproblem.

Der Autorin gelingt mit der Person Kornitzer das, was einen guten Roman ausmacht: Sie beschreibt die Entwicklung eines Menschen. Richard Kornitzer wird vom normalen, gut situierten und akademisch ausgebildeten Bürger zum mittellosen Heimatvertriebenen.  Nach seiner Rückkehr wird aus dem idealistischen Richter ein manischer, notorischer Kämpfer in Sachen eigener materieller Wiedergutmachung.

Der Höhepunkt der Geschichte findet am 20. September 1956 statt: Der Landesgerichtsdirektor Kornitzer liest zu Beginn einer Gerichtsverhandlung als persönliche Erklärung Artikel 3 und Artikel 97 des Grundgesetzes kommentarlos vor. Er reagiert damit auf die Manipulation bei der Besetzung von Richterämtern.

Das hat weitreichende disziplinarische Folgen für ihn. Ein verzweifelter Machtkampf gegen die Mühlen der Justiz beginnt. Richard Kornitzer erweist sich dabei als ein Charakter von Kohlhaas’scher Dimension – und nicht zufällig ist dem Buch wohl auch ein Zitat von Heinrich von Kleist vorangestellt:

„Mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckt die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen.“ (Heinrich von Kleist – „Michael Kohlhaas“).

Das Hörbuch, kongenial vorgetragen von Frank Arnold, umfasst 8 CDs und 580 Minuten.

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