Cees Nooteboom – „Allerseelen“ (Hörbuch)

Rating: ★★★☆☆ 

Arthur Daane, ein niederländischer Dokumentarfilmer, 44 Jahre alt, lebt – seit dem Tod seiner Frau Roelfje und des gemeinsamen Sohnes Thomas bei einem Flugzeugunglück – allein in Berlin.

Warum Berlin? Hier leben auch seine Freunde: Der ebenfalls niederländische Bildhauer Victor Leven, der deutsche Philosoph Arno Tieck und die russische Physikerin und Galeristin Zenobia Stejn.

Mit den beiden fiktiven Männerfreunden hat Nooteboom zwei seiner persönlichen Freunde ein literarisches Denkmal gesetzt: Der Philosoph Arno Tieck ist ein Porträt Rüdiger Safranskis, Victor Leven, ist das Alter Ego des niederländischen Künstlers Armando. Arthur Daane selbst ist mehr oder weniger Nootebooms Ebenbild, nur ein wenig größer und  jünger.

In Berlin lebt Daane auch, weil es keinen anderen Ort gibt, der die Katastrophen dieses Jahrhunderts derart gnadenlos sichtbar macht. Jede Straßenecke, jeder Keller, jede Baulücke erzählt dem, der es hören kann, seine Geschichte:

„Kaiserreich, Revolution, Versailles, Weimar, Wirtschaftskrise, Hitler, Krieg,
Besetzung, Ulbricht, Honecker, Wiedervereinigung, Demokratie. Doch eine eigenartige Wegstrecke, würde man sagen. Und noch immer in derselben
Stadt, mitgemacht oder nie mitgemacht, auf der richtigen Seite, auf der falschen
Seite, zwei, drei, vier Vergangenheiten, die in sich zusammengebrochen sind, ein
ganzes Geschichtsbuch hat sich in diese Gesichter gekerbt, Kriegsgefangenschaft
in Russland, im Widerstand gewesen oder mitgelaufen, Scham und Schande, und dann
wieder alles weg, verschwunden, Fotos in einem Museum, Fähnchen schwenkend,
Erinnerungen, Puder, nichts mehr, nur noch die anderen, die nichts davon
begreifen.“

An die Welt binden Daane nur ein Anrufbeantworter und seine Telefonfreundin Erna in Amsterdam, dazu kommt noch die kleine Tafelrunde seiner Freunde, die sich in Berlins „Pfälzischer Weinstube“ trifft – und eine Fotografie seiner ehemaligen Familie auf seinem Schreibtisch. Erna wirft ihm vor, zu sehr in der Vergangenheit zu leben. Doch über den Tod von Frau und Kind kommt er nicht weg.

Die Verstorbenen erheben sich zu einer Präsenz, wie sie im katholischen Fest Allerseelen angelegt ist, das Arthur Daane gegen Ende des Romans erklärt: Ein Bild, das Menschen und Lichter auf einem Friedhof zeigt.

Mit seiner Kamera sieht und dokumentiert Arthur stellvertretend für den Verlust seiner Familie das Verschwinden der Gegenwart. Besonders die Grauzone der Dämmerung, das Erlöschen des Lichts, das Schwinden des Jetzt, das treibt ihn um, vielleicht weil es Ähnlichkeit hat mit der Grauzone zwischen Leben und Tod. Es ist dieses Licht und diese Stimmung von kalten Spätherbsttagen, die den gesamten Roman durchzieht und ihn so düster wirken lässt: „Irgendwann würde er in der Lage sein, Dämmerlicht zu filmen wie kein zweiter.“

Der Zufall kommt ins Spiel und lässt Arthur einer jungen Frau mit „Berberkopf“ und Narben im Gesicht begegnen. Er lädt sie zu einem Treffen in der Cafeteria ein. Sie heißt Elik Oranje und flieht auf Grund von schrecklichen Kindheitserlebnissen mit gewalttätigen Männern vor der Liebe. Sie sublimiert ihr Kindheitstrauma lieber mit einer Dissertation über Urraca, einer Königin von León-Kastilien im zwölften Jahrhundert, die Krieg gegen ihren Ehemann, Alonso von Aragón, führte.

Eine Frau, die die Liebe der Männer fürchtet, und ein Mann, dessen Liebe zu seiner toten Frau fortdauert, das ist keine günstige Ausgangssituation. Das Menetekel des Scheiterns steht im düsteren Raum.

„Von allen Formen der Liebe ist die zwischen Unbekannten die rätselhafteste und die überzeugendste. Sie geben einander die Stadt zurück, in der sie verschwinden müssen.“ schrieb Nooteboom einmal in  „Selbstporträt eines Anderen“. Mit „Allerseelen“ hat auch Cees Nooteboom sich mit einem rückblickenden Roman über die Liebe in die Phalanx deutscher Altersautoren eingeschrieben, wenn auch deutlich weniger selbstbespiegelnd als diese.

Für diesen Roman benutzte Nooteboom offenbar seine Erinnerungen eines Berlin-Aufenthaltes im Jahr der Wende, dem auch die „Berliner Notizen“ (1990/1991) entsprangen. Der Roman endet mit den Worten: „Und wir? Ach wir . . .“

Der Autor liest sein Buch selbst. Das hat fast immer seinen Reiz. Doch auch wenn Nooteboom der deutsche Schriftsprache unzweifelhaft mächtig ist, hat er über seinen niederländischen Akzent hinaus so manches Mal Schwierigkeiten, mit der korrekten Aussprache einzelner Wörter – das kann stören.

Bei dem Hörbuch handelt es sich um eine gekürzte Fassung auf 7 CDs und 550 Minuten Laufzeit aus dem Jahre 2006 des im Jahre 1998 erschienenen Buches.

Dieser Beitrag wurde unter 4 Sterne, Autorenlesung, Hörbuch, Roman abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.