Georges Simenon – „Fremd im eigenen Haus“

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Rechtsanwalt Hector Loursat hat sich in seinem Haus verkrochen, seit ihm seine Frau vor achtzehn Jahren mit einem anderen davonlief.

Seither lebt er einsam in seinem Arbeitszimmer und verkommt – er, der einst gefeierte Anwalt, nun mit Ende 40 dem Alkohol verfallen und ohne emotionale Beziehung zu seiner inzwischen erwachsenen Tochter, mit der er jeden Tag wortlos lediglich die Mahlzeiten einnimmt.

„Ein guter Ofen, dunkelroter Rotwein und Bücher, alle Bücher dieser Welt. Das war Loursats Welt.“

Doch eines Nachts liegt in seiner kaum mehr genutzten und fast leeren Villa ein Toter – und Loursat erfährt vom Doppelleben der seiner ansonsten biederen Tochter. Der Tote, ein kleiner Gauner, den die Clique mit einem gestohlenen Auto angefahren hatte und hier versorgt werden sollte, wurde offenbar von einem der jungen Leute erschossen.

Doch wer aus der Clique seiner Tochter hatte den Schuss abgegeben? Und warum?  L’ennui, die Langeweile, ist besonders in der französischen Literatur ein zentraler Begriff. Fast alle sind Kinder aus gutem Hause, gehören zur „jeunesse dorré„. Wer dazu gehören will und von zu Hause aus kein Geld hat, wird gedemütigt, muss Initiationsriten durchlaufen, zu denen durchaus auch Straftaten wie das Stehlen eines Autos gehören.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt dezent im Hause von Maître Loursat  -man ist verwandt. Ein junger Mann wird verhaftet. Doch ist der mittellose Emile Manu nicht nur ein Bauernopfer der anderen jungen Leute aus den reichen Familien dieser Stadt? Loursat wird langsam wach und nimmt die Sache selber in die Hand. Er recherchiert und übernimmt die Verteidigung des jungen Manu, er, in dessen Haus ein Mord geschehen ist, er, der sich selbst kaum mehr unter Kontrolle hat, er, der offenbar nicht weiß, was seine eigene Tochter treibt. Die kleine Stadt ist in heller Aufruhr.

Es ist immer wieder erstaunlich, welch unterschiedlichen Sujets Simenon in der Lage war zu inszenieren. Auch dieser Roman aus dem Jahre 1938 bietet eine präzise Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und daraus möglicher bzw. unmöglicher Entwicklungen. Der Mensch als Opfer seiner Verhältnisse, das war Simenons Thema.

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