Hans-Christian Dany – „Morgen werde ich Idiot“

Rating: ★★★★☆ 

Als ich die Rezension von „Morgen werde ich Idiot – Kybernetik und Kontrollgesellschaft“ von Hans-Christian Dany im Radio hörte, war ich interessiert und bestellte spontan.

Nach dem Lesen dieses vielschichtigen Essays stellte ich fest, dass ich das Werk ganz anders als die Rezensentin gelesen habe. Dieser war das Buch „zu negativ“, denn „das Internet hat ja nicht nur schlechte Seiten“. Doch darum geht es gar nicht – ich bin vom Denkansatz des Autors fasziniert: Die Gesellschaft wird von elektronischen, kybernetischen Systemen umfassend kontrolliert, normiert und reguliert.

Im Gegensatz zur früheren Disziplinargesellschaft kommt die moderne Kontrollgesellschaft scheinbar liberal, ohne Druck und Zwang daher. Jeder kontrolliert jeden. Freiwillig kaufen die Bürger für teures Geld ihr Smartphone und lassen sich umfassend ausspähen. Die Kontrollmaschine sieht und weiß alles, Aufenthaltsort, Telefon-, SMS- und Mailkontakte, google-Anfragen, gespeicherte Daten.

Gegen die heutigen Möglichkeiten durch Superrechner und ausgefeilte, selbst lernende Algorithmen („big data“) mutet der Orwellsche „big brother“ wie ein Waisenknabe an. Die Praktiken der NSA wurden dabei erst kurz nach Fertigstellung des Buchs bekannt!

Von der Norm abweichende oder sogar revolutionäre Verhaltensweisen werden von der kapitalistischen Industrie wieder als neue Produktideen integriert – Danys Beispiel dafür sind die Guy-Fawkes-Masken der Occupy-Protestler. Mir fallen die Che-Guevara-T-Shirts ein.

Dany beginnt mit einer kleinen Ideengeschichte von Kontrolle und Lenkung durch die Obrigkeit seit der Aufklärung. Es folgt ein Exkurs über die Kybernetik als Steuerungslehre. Hier war ich begeistert, Zitate von Stanislaw Lem und Arkadij und Boris Strugatzki zu kybernetischen Systemen aus den 1960er und 70er Jahren wiederzufinden, die ich damals als „Science Fiction“ gelesen habe – heute hat die Realität diese Fiktionen bereits überholt. Von der damaligen Gedankenwelt ist nur noch der alberne Anglizismus „cyberspace“ übriggeblieben.

Dany springt in den Disziplinen wild hin und her: Psychologie, Politik, Wirtschaft, Naturwissenschaft und vieles andere, denn alles ist ja komplett miteinander verbunden in der weltumfassenden Kontrollmaschine. Die Metaphorik schießt dabei mächtig ins Kraut: „Wir … plagen uns nicht mehr damit, an die Türen längst abgerissener Häuser zu klopfen“ – ja, da gibt es für die Leser/in noch viel nachzudenken.

Der Titel nimmt die Pointe des Essays vorweg: „idiot, idios“, bedeutet ursprünglich im Griechischen „Privatmann“. Danys Programm ist die Verweigerung, die Abkapselung und Abnabelung von der allgegenwärtigen Weltmaschine. Nicht machbar? Zu radikal? Probieren wir es doch einfach aus. Etwas Besseres als die totale Überwachung finden wir überall!

Klappentext:
„Ein heiter ätzender Spaziergang durch das Innere, die Entwicklungsgeschichte und die Albträume einer von Selbstoptimierung besessenen Gesellschaft, die ihre Kontrolle nicht mehr durch Macht, sondern durch Rückkopplung und Selbstregulation ausübt.“

Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg, 124 S.

Dieser Beitrag wurde unter 4 Sterne, Essay, Gastbeitrag abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.