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Im neuen Roman von Uwe Timm geht es vordergründig um das, was wiederum Martin Walser in seinem neuen Roman (einmal mehr) als „das seriöseste und zugleich lächerlichste Leiden überhaupt: die Liebe“ bezeichnet. Bei Timm geht es um mehr: Um die Liebe, die Treue und das Begehren.
„Ehe war für Anna, so sagte sie, etwas Einmaliges, Verbindliches, ein Gesetz, eine Vereinigung fürs Leben, die man nicht einfach aussetzen und dann wiederholen kann.“
Das Versprechen „bis dass der Tod Euch scheidet“, wird in Zeiten, in den Menschen doppelt so alt werden als zu den Zeiten der Entstehung dieser religiösen Formel, als nicht mehr zeitgemäß empfunden:
„Weil die Beziehungen gar nicht mehr so auf Dauer angelegt sind. Sie sind – man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen – transitorisch geworden“.
In Zeiten also, in denen man vornehm von „serieller Monogamie“ spricht, scheint die Institution der Ehe verbunden mit lebenslanger Treue zunehmend in Frage gestellt:
„Ich war zweimal verheiratet, glücklich. Ich nur einmal, sagte er. Und glücklich? Vielleicht drei Jahre. Dann kannten wir uns. Kann man dann noch glücklich sein?“
Gleichwohl gibt es das Verlangen nach Ordnung, Stabilität und Verlässlichkeit für den anderen:
„Es soll nicht sein, dass immer wieder ein anderer, eine andere kommen kann, die, und sei es nur für einen Augenblick, Begierde auslösen und damit Beliebigkeit schaffen. (…) Immer den noch besseren Partner suchen. Das beste Angebot.“ (…) „Es ist doch etwas Trauriges, wenn eine Ehe ihre Unschuld verliert.“
Was also tun, wenn man sich auf nichts mehr verlassen kann, nicht auf Gott und nicht auf die Welt – wenn der Mensch also wie Jonas verzweifelt, was dann? „Es muss in dieser heillosen Welt etwas Heiliges geben.“
Dies alles geschieht bei Timm vor dem Hintergrund eines klischeehaften bürgerlichen Lebens von saturierten, in ihren Lofts wohnenden Figuren mit teuren Wohnungseinrichtungen, Leidenschaften für Oldtimer, alten Whisky, Rinderherz mit Pflaumen, Galeriebesuchen, Tessiner Veltliner und gutem Rotwein, den man erst „atmen“ lässt, bevor man ihn trinkt, wo man en passant Schmuckstücke oder Bilder für ein paar tausend Euro kauft – „Seladon-Vasen, seine Zeichnungen von Dix und Grosz, von Heckel, Kirchner, Schmidt-Rottluff, die Originalfotographien von Cartier-Bresson, von Lee Miller, Margret Bourke-White„.
Das Buch erinnert mithin ein wenig an die snobistischen Allüren in Martin Suters Life-Style Romanen, doch eine satirische Distanz zu solchem Leben vermag der Leser nicht zu entdecken.
Nachdem er Firma, Freundin und Geliebte verloren hat und fortan einsam als Vogelwart auf der ansonsten für Besucher gesperrten Vogelinsel Scharhörn gelandet ist, erinnert Protagonist Christian Eschenbach sich in Rückblenden der sechs Jahre zuvor. Anlass für seine Rückschau ist ein Anruf von seiner einstigen amour fou Anna, die den Eremiten auf seiner Vogelinsel besuchen will. Bis sie es aufs Eiland schafft, vergehen 285 lange Seiten. Überhaupt erschlägt das Buch den Leser mit seinen überbordenden Details, Exkursen, Rückblenden und Versatzstücken – viel hilft nicht immer viel.
Die bei Goethe noch revolutionären „Wahlverwandtschaften“ sind bei Timm zu einem saturierten Partnertausch zwischen Ewald, Anne, Selma und Eschenbach geriert, bei dem man ganz intellektuell auch über das „Begehren“ deliberiert:
„Wünsche, die sich allen Vorsätzen und moralischen Vorstellungen widersetzen und alle angeführten Gründe sind ganz hilflose Versuche, den Wunsch-Reaktor zu verstehen: Es ist der Hunger und der Durst des Körpers nach dem Körper. Nicht auf einen beliebigen, sondern auf den einen …“
Andererseits erkennt Eschenbach, Begehren, „das ist doch alles und es ist nichts. Eine graue Katze in der Nacht.“ Vieles bleibt im Roman auf der Ebene der Anspielung und Beliebigkeit – angefangen beim Titel und dem Namen des Protagonisten (Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach sind die beiden bekanntesten Minnesänger deutscher Sprache) oder der immer wieder aufgenommen Geschichte vom Jonas und dem Wal, mit der die Frage von Schuld und Vergebung angerissen wird: „Welche Schuld?, hatte er nochmal gefragt. Das Versprechen, das ich gebrochen habe.“
Eine ménage à quatre wird kurz angedacht, man lebt schließlich in modernen Zeiten:
„Vielleich ist unser Denken einfach zu stark von Erziehung, Finanzamt und Kirche bestimmt, von der Vorstellung der Ehe als Institution der Ausschließlichkeit (…) Anna lehnte strikt ab.“
Beschäftigte sich Uwe Timm einst mit dem Einfluss der äußeren Welt auf den Menschen, großen gesellschaftlichen Themen in persönlichen Geschichten, geht es in „Vogelweide“ um Innerlichkeiten – der Mensch dreht sich um sich selbst: „Was war an uns, was ist dir aufgefallen, fragte er später“. Das führt dann zu schriftstellerischen Volten wie dieser:
„Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir, die Unvollkommenen, suchen nach dem Vollkommenen im anderen. Äußerlich und seelisch. Lieben heißt, den anderen überbewerten.“
Der Leser hält angesichts solcher Sätze verblüfft inne: Wähnt er sich doch spätestens ab der Mitte des Romans inhaltlich und sprachlich (unendliche Selbstgespräche und Kurzdialoge in direkter Rede) in einem der späten Romane Martin Walsers, dessen Lebensthema von jeher die Verkomplizierung von Paarbeziehungen war, und der dann noch mit Titeln wie „Ein springender Brunnen“, „Ein liebender Mann“ oder „Angstblüte“ seinem Gesamtwerk altherrenerotische Spätwerke hinzufügte, ganz, als ob es im Alter, dem Tode, ach, so nahe, nicht drängendere, entscheidendere Themen gäbe – so nun also offenbar auch Uwe Timm: „Ja, in dir, denkt er, außer mir sein.“
Es mag scheinen, als ob sich Uwe Timm in den liebestollen Korso alternder Schriftsteller eingereiht hätte, deren sich noch einmal aufbäumender Jugendlichkeitswahn sich gegen den nahenden Tod richtet.
„Die feinen Falten um die Augen, man sah, sie lachte leicht und oft. Und um den Mund zwei feine Linien, dazu eine kleine Vertiefung, dort wo die Lippen aufeinandertreffen. Etwas Wissendes, etwas , das Lust empfunden hatte und Lust geben konnte, zeichnete sich dort ab.“
Immerhin wäre auch Timm damit in bester literarischer Gesellschaft: Auch Goethe hatte sich im nahezu gleichen Alter noch einmal zum Gespött der Weimarer Gesellschaft gemacht, als er der blutjungen Ulrike von Levetzow nachgereist und nachgestiegen war, wie Sigrid Damm es in ihrem entzückenden Buch über Goethes letzte Reise so trefflich beschrieben hat.
Doch vielleicht ist Uwe Timm mit seinen 73 Lebensjahren und 44 Ehejahren aber auch nur das, was in biblischen Texten gerne als „lebenssatt“ beschrieben wird? Das wäre hinnehmbar. Aber das wäre nicht Uwe Timm. Ein zweiter Blick könnte also lohnen. Denn die wirklich guten Bücher dieser Welt erfordern minimal ein zweites Lesen. Vielleicht gibt es danach auch einen Stern mehr?