Ferdinand von Schirach – „Tabu“

Rating: ★★★★☆ 

Wie schon in seinen beiden Büchern mit Kurzgeschichten „Schuld“ und „Verbrechen“ sowie in seinem ersten Roman „Der Fall Colini“, hinterlässt Ferdinand von Schirach seine Leser auch in seinem zweiten Roman über den Synästhetiker und Künstler Sebastian von Eschburg ratlos.

Von Eschburg erlebt Gegenstände und Menschen in einem jeweils nur ihm sichtbaren Farbkleid: Die Haut des Vaters ist grünblau, die der Mutter farblos. Auch das Buch ist in Anlehnung an die Farblehre nach Helmholtz in die Farben „Grün“, „Rot“, „Blau“ und „Weiß“ aufgeteilt: „Sobald sich das Licht der Farben Grün, Rot und Blau in gleicher Weise mischt, erscheint es uns als Weiß.“ Dieser Satz ist dem Roman als Motto vorangestellt – und die Auflösung ist der drei Farben in reines „Weiß“, quasi in nichts, ist programmatisch für die Handlung.

Seine gefühlskalte Mutter interessiert sich nur für ihre Reitturniere, der trunksüchtige Vater nur für seine Jagd. Halbschwestern allerorten. Sein Vater begeht dann irgendwann Selbstmord, seine Mutter verkauft daraufhin das Haus am See und schickt den Sohn ins Internat. Da kann man durchaus an Freud denken, an „Totem und Tabu„.

Vordergründig geht es in dem Buch um einen vermeintlichen Mord – ebenfalls ein Tabu -, den von Eschburg an einer Halbschwester begangen haben will. Je tiefer sein Strafverteidiger Konrad Biegler in den Fall einsteigt, desto stärker verschwimmen Wirklichkeit und Wahrheit – ganz wie  in den Installationen des Künstlers von Eschburg. Und es gibt keine Leiche, nur eine DNA der Halbschwester.

„Wenn man einen Freispruch von einer Mordanklage will, gibt es sechs Möglichkeiten. Erstens: Es war nicht richtig zu töten – kommt selten vor. Zweitens: Es war Notwehr. Drittens: Es war ein Unfall. Viertens: Sie wussten nicht, was Sie taten, oder Sie konnten das Unrecht Ihres Handelns nicht einsehen. Fünftens: Sie waren es nicht, ein anderer hat’s getan. Und – ebenfalls sehr selten – sechstens: Es gab gar keinen Mord.“

Dem Künstler von Eschburg entgleitet die Wahrheit zunehmend. Nichts ist so, wie es sich darstellt. Doch seine Kunst macht von Eschburg nicht mehr glücklich. Da begeht er ein Verbrechen, das aber daherkommt wie eine Kunstaktion: Er inszeniert er einen Mord, der keiner ist, sondern nur eine Performance.

Grundsätzlich geht es dem hauptberuflichen Strafverteidiger von Schirach erneut um das Rechtssystem:

„Ich habe irgendwann begriffen, dass der Mensch nur sich selber gehört. Nicht einem Gott, nicht einer Kirche, nicht einem Staat – nur sich selbst. Das ist seine Freiheit. Sie ist zerbrechliche diese Freiheit, empfindlich und verwundbar. Nur das Recht kann sie schützen.“

Konkret stellt von Schirach in diesem Buch die Frage nach der Rechtmäßigkeit Folter zur Erlangung eines Geständnisses – einst auch als „verschärfte Vernehmungsmethoden“ bekannt – von Verdächtigen, um möglichen Schaden von anderen abzuwenden – ein Tabu-Bruch, weil nach unserer Gesetzgebung nicht erlaubt.

Als Strafverteidiger vertritt er das Recht und steht dabei auf Seite derer, die es gebrochen haben. Eine Ambivalenz, die ethische Fragen aufwirft. Von Schirach geht es um die Würde des Menschen – immerhin Gegenstand des ersten Artikels des Grundgesetzes:

„Sie haben die Würde eines Menschen verletzt. Diese Würde kann ein Mensch nicht erwerben und er kann sie nicht verlieren. Der Mensch wird durch Ihre Folter zu einem bloßen Objekt gemacht, er dient nur noch dazu, etwas aus ihm herauszubekommen.“

Letztlich aber ist das Buch aber auch eine Beschäftigung mit der Frage, was Wirklichkeit und was Wahrheit ist. Wirklichkeit ist das, was wir mit unseren Sinnen subjektiv wahrnehmen – oder wahrzunehmen meinen. Denn die erlebte Wirklichkeit muss nicht wahr sein, wie von Schirach am Beispiel des historisch nachgewiesenen „Schachtürken“ darstellt.

Auch die Wahrheit stellt letztlich nur ein Verhältnis eines im Bewusstsein abgebildeten Objekts und dem Objekt selbst dar – man denke nur an Magrittes Bild „Ceci n’est pas une pomme“ oder an Ferdinand de Saussures semiotisches Dreieck. Die Relativität der Wahrheit ergibt sich besonders auch aus der Entwicklung der Erkenntnis der Menschheit – vor etwas über 100 Jahren hätte man zB die Existenz von Röntgenstrahlen vermutlich geleugnet. Deshalb gibt es eine endgültige, ewige Wahrheit im dialektischen Materialismus nicht.

Doch Gerichtsverfahren sind dazu da, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Alle Beteiligten, bis auf den Angeklagten, stehen unter Wahrheitspflicht. Die Rechtsprechung entscheidet Rechtsstreitigkeiten durch Anwendung von Rechtsnormen auf einen bestimmten Sachverhalt. Bleibt die Wahrheit offen, wird nach der objektiven Beweislast (Indizien) entschieden. Im Strafprozess wird der Angeklagte freigesprochen (in dubio pro reo), wenn kein Schuldnachweis möglich ist.

Auch die eingeschränkte Verfahrenszeit setzt der Wahrheitsfindung Grenzen.  Damit  berührt von Schirach das Thema, was überhaupt Schuld ist:

„Schuld?, dachte er, Schuld – das ist der Mensch.“

Dies sind die philosophischen Fragen, mit denen sich der Strafverteidiger von Schirach in seinen Büchern beschäftigt. Die Handlung bzw. die „Story“ dient ihm dabei nur als „Schmiermittel“. Die Diskussion mancher Rezensenten in den Feuilletons überregionaler deutscher Zeitungen, ob seine Sprache nur aus lauter Parataxen bestehe, wie auch die Frage, ob er überhaupt schreiben könne, ist daher müßig – ebenso wie die Frage nach dem Sinn des Titels oder wer die hübsche junge Frau auf dem Umschlag ist.

Das Buch ist in jeder Hinsicht spannend, anspruchsvoll und philosophisch. Ob es sich um „Literatur“ handelt, bleibt angesichts der unklaren Positionierung zwischen Belletristik (vulgo „Krimi“) und Sachbuch offen.

Es ist bei Piper erschienen und hat 254 Seiten.

Dieser Beitrag wurde unter 4 Sterne, Roman abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.