Hanns-Josef Ortheil – „Der Junge, der nicht fragte“

Rating: ★★★★☆ 

Benjamin Merz heißt die Hauptfigur dieses Otheilschen Romans, der offenbar erneut einige autobiographische Elemente enthält und ein weiteres Mosaiksteinchen in der der Aufarbeitung eigenen Lebens ist.

Ein Mann Ende dreißig, von Beruf Ethnologe. Eine erfolgreiche Persönlichkeit eigentlich. Nur seine vier älteren Brüder verhinderten die normale Entwicklung des Nachkömmlings. Sie dominierten und drangsalierten den „Kleinen“ – und der reagierte darauf mit Schweigen, in einer Phase, wo Kinder sonst ständig fragen.

Hanns-Josef Ortheil selber blieb bis zu seinem siebten Lebensjahr nach dem Vorbild seiner Mutter stumm – diese hatte das Sprechen eingestellt, nachdem seine vier älteren Brüder nacheinander im Krieg oder als Fehlgeburten gestorben waren.

Natürlich hat Ortheil den Namen seines Protagonisten Benjamin nicht zufällig gewählt, steht er doch einerseits für den Letztgeborenen in einer Familie und andererseits nach dem Alten Testament für den jüngsten Sohn des Jakob und seiner Lieblingsfrau Rahel. Und immerhin trägt Ortheil selber den Vornamen „Josef“, der (anders als die anderen Brüder) ebenfalls Sohn der Rahel war – im Alten Testament herrschte noch heftige Vielweiberei.

Die Handlung wird im Wesentlichen von den Bewohnern der Insel bestritten, auf die Benjamin Merz sich zurückgezogen hat: Sizilien – darin das kleine (fiktive) Städtchen im äußersten Süden namens Mandlica.

Benjamin Merz möchte die Lebensart, die Gewohnheiten und Besonderheiten der Menschen in diesem kleinen Ort wissenschaftlich untersuchen – und sein Autor weiß offenbar über diese Gegend gut Bescheid, auch über die Kunst- und Literaturgeschichte und das sizilianische Alltagsleben der Gegenwart.

Es gelingt Benjamin, durch seine wissenschaftlichen Befragungen und seinem Interesse an den Menschen eine großes Sympathie aller Ortsbewohner zu erringen. Die Menschen wollen ihm bereits nach kurzer Zeit alle ihre Lebensgeschichten erzählen – denn was gibt es Schöneres, als wenn sich jemand für einen interessiert und einem zuhört? Das treibt sogar die Reichen und die Promis bei uns allabendlich in die unsäglichen Talk Shows.

Mit großem Einfühlungsvermögen und viel zärtlicher Liebe nähert sich Ortheil / Merz den Einheimischen an. Wer viel gibt, erhält auch meist zurück: Schließlich erfährt auch er selber die Liebe und findet eine neue Heimat mit Paula, einer gebürtigen Deutschen, als kongenialer Lebenspartnerin.

Dieser Roman der Aufarbeitung eigenen Lebens ist wie ein Kinderbuch für Erwachsene, in seiner übertriebenen Dramaturgie; dies ist vielleicht der einzige Makel dieses Buches – zugegeben etwas überpointiert – mit „Pipi Langstrumpf oder „Kai erobert Brixholm“ zu vergleichen: Denn der ganze Ort hebt Benjamin Merz am Ende auf ein Schild, liebt ihn wie einen Heilsbringer, feiert ihn als großartigen Menschen und hilft ihm dadurch, all das zu kompensieren, was ihn in den ersten Jahren seiner eigenen Lebensgeschichte so fatal verstört hat.

Es bedarf – anders als in der biblischen Geschichte – dann auch keiner abschließenden abrechnenden Begegnung mit seinen Brüdern, um seinen wundersamen Sieg über sie zu genießen. Die Frage ist nur, ob Benjamin Merz sich in diesem märchengleichen Buch selbst glauben kann, ob er also wirklich dort angelangt ist, wo er immer sein wollte, oder ob die Romanhandlung ihn am Ende dort wieder absetzt, wo sie ihn zu Beginn aufgriff?

„Ich knie in der kleinen Holzbank und schließe die Augen. Ich konzentriere mich, wie früher als Kind. Ich spreche die beiden Gebete, die der Herr sich gewünscht hat, dann mache ich eine kurze Pause. Ich atme durch, ich heb den Kopf, ich flüstere: ‚Ich heiße Benjamin, ich war das Kind, das nicht fragte.‘ „

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