Hans Pleschinski – „Königsallee“

Rating: ★★★★★ 

Ganz im zeitgeistigen Sinne und im Stile ähnlich der Erzähltechnik eines Florian Illies, kommt uns dieses Buch von Hans Pleschinski daher:

Aus dem Blickwinkel verschiedener Protagonisten wird der Besuch von Thomas Mann, seiner Frau Katia und Tochter Erika in Düsseldorf im Jahre 1954 anlässlich einer Lesung seines „Felix Krull“ szenisch abgelichtet. Dies ist der objektive Teil des Romans, den der Autor mit je einem Kapitel um Personen ausschmückt – die mit Gewissheit dort damals nicht anwesend waren und die den Mannschen Aufenthalt parlierend umkreisen. Ein wahres Panoptikum!

Es erscheinen Tochter Erika Mann, ihr Bruder Golo, der Lyriker Ernst Bertram und eben Klaus Hauser. In Momentaufnahmen und Nah- und Ferneinstellungen erstellt Pleschinski eine 360 Grad Rundumaufnahme.

Als Basis für diesen Roman dienten Pleschinski offenbar Details aus Klaus Heusers Nachlass (bei seinen Nachforschungen hatte die Düsseldorfer Nichte Heusers ihm bisher unbekannte, noch nicht veröffentliche Briefe übergeben) sowie die Tagebucheinträge Thomas Manns, in denen er sein Zusammentreffen mit dem jungen blonden Klaus Heuser einst notiert hatte:

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Cees Nooteboom – „Saigoku“

Rating: ★★★★★ 

Wenn jemand fast jede Stadt, jeden entlegenen Flecken dieser Erde bereist hat, dann gehört Cees Nooteboom gewiss zu diesen.

Bereits 1992 berichtete er über den Jakobsweg nach Santiago de la Compostella. In diesem Buch beschreibt er nun gemeinsam mit Fotographin Simone Sassen den japanischen Saigoku-Pilgerweg der 33 Tempel. Alle diese Tempel sind Kannon, der vielgestaltigen Göttin (oft mit Pferdekopf) der Barmherzigkeit geweiht.

Cees Nooteboom hat dafür mehrere Anläufe und mehrere Jahren gebraucht. Die Reihenfolge, in der man die Tempel besucht, ist nicht vorgegeben. Meist liegen sie jedoch weit abgelegen, fern von der japanischen Zivilisation, irgendwo unwegsam und hoch in den Bergen und sind schwer zu erreichen: Komplizierte öffentliche Verkehrsmittel, langwierige Aufstiege, Treppen mit hunderten von Stufen. Doch die körperliche Anstrengung ist meist Programm bei Wallfahrtsorten:

„… man geht freiwillig zu etwas, das buchstäblich hoch über einem liegt, das muss einem etwas wert sein, dort anzukommen ist wie seine eigene Belohnung.“

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Hans-Christian Dany – „Morgen werde ich Idiot“

Rating: ★★★★☆ 

Als ich die Rezension von „Morgen werde ich Idiot – Kybernetik und Kontrollgesellschaft“ von Hans-Christian Dany im Radio hörte, war ich interessiert und bestellte spontan.

Nach dem Lesen dieses vielschichtigen Essays stellte ich fest, dass ich das Werk ganz anders als die Rezensentin gelesen habe. Dieser war das Buch „zu negativ“, denn „das Internet hat ja nicht nur schlechte Seiten“. Doch darum geht es gar nicht – ich bin vom Denkansatz des Autors fasziniert: Die Gesellschaft wird von elektronischen, kybernetischen Systemen umfassend kontrolliert, normiert und reguliert.

Im Gegensatz zur früheren Disziplinargesellschaft kommt die moderne Kontrollgesellschaft scheinbar liberal, ohne Druck und Zwang daher. Jeder kontrolliert jeden. Freiwillig kaufen die Bürger für teures Geld ihr Smartphone und lassen sich umfassend ausspähen. Die Kontrollmaschine sieht und weiß alles, Aufenthaltsort, Telefon-, SMS- und Mailkontakte, google-Anfragen, gespeicherte Daten.

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Erika Schmied (Hg.) – „Peter Kurzeck – der radikale Biograph“

Rating: ★★★★★ 

Die Fotografin Erika Schmied hat eine Fotodokumentation mit 130 Schwarzweiß-Fotografien und begleitenden Texten von Peter Kurzeck herausgegeben. Sie hat dazu die wirklichen Orte gemeinsam mit Peter Kurzeck aufgesucht: Tachau, Staufenberg, Gießen, Lollar, Frankfurt am Main, Uzès.

Die Fotos zeigen die Menschen, die der Leser nur als Romanfiguren kennt: Tochter Carina, Ehefrau Sibylle, die Freunde Jürgen, Edelgard und Pascale.

Das Buch ist gerade zum 70. Geburtstag des Autors erschienen. Es ist eine Hommage an Peter Kurzeck und eine Biographie zugleich. Es ist ein Fotoband ganz im Sinne des Autors, der die Stationen seines Lebens bildhaft festhält. Die ergänzenden Texte und Laudatien runden das Wissen um das Werk dieses begnadeten Erzählers ab.

Kein anderes Erinnerungsprojekt der deutschen Gegenwartsliteratur, auch nicht das „Echolot“ von Walter Kempowski, ist so umfassend angelegt wie Peter Kurzecks Romanzyklus „Das alte Jahrhundert“. Mit seinen Erinnerungen rückt er die vergangene Zeit in die Gegenwart des Lesens. Peter Kurzeck, der vertriebene Bewahrer,  Konservator:

Man versichert sich einerseits der Welt, aber man befreit sich auch von ihr. Es ist zugleich, denke ich, ein Heilungsprozess damit verbunden.

Dieses Buch ist ein Muss für alle Kurzeck-Adepten.

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Cees Nooteboom – „Allerseelen“ (Hörbuch)

Rating: ★★★☆☆ 

Arthur Daane, ein niederländischer Dokumentarfilmer, 44 Jahre alt, lebt – seit dem Tod seiner Frau Roelfje und des gemeinsamen Sohnes Thomas bei einem Flugzeugunglück – allein in Berlin.

Warum Berlin? Hier leben auch seine Freunde: Der ebenfalls niederländische Bildhauer Victor Leven, der deutsche Philosoph Arno Tieck und die russische Physikerin und Galeristin Zenobia Stejn.

Mit den beiden fiktiven Männerfreunden hat Nooteboom zwei seiner persönlichen Freunde ein literarisches Denkmal gesetzt: Der Philosoph Arno Tieck ist ein Porträt Rüdiger Safranskis, Victor Leven, ist das Alter Ego des niederländischen Künstlers Armando. Arthur Daane selbst ist mehr oder weniger Nootebooms Ebenbild, nur ein wenig größer und  jünger.

In Berlin lebt Daane auch, weil es keinen anderen Ort gibt, der die Katastrophen dieses Jahrhunderts derart gnadenlos sichtbar macht. Jede Straßenecke, jeder Keller, jede Baulücke erzählt dem, der es hören kann, seine Geschichte:

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Uwe Timm – „Vogelweide“

Rating: ★★★☆☆ 

Im neuen Roman von Uwe Timm geht es vordergründig um das, was wiederum Martin Walser in seinem neuen Roman (einmal mehr) als „das seriöseste und zugleich lächerlichste Leiden überhaupt: die Liebe“ bezeichnet. Bei Timm geht es um mehr: Um die Liebe, die Treue und das Begehren.

„Ehe war für Anna, so sagte sie, etwas Einmaliges, Verbindliches, ein Gesetz, eine Vereinigung fürs Leben, die man nicht einfach aussetzen und dann wiederholen kann.“

Das Versprechen „bis dass der Tod Euch scheidet“, wird in Zeiten, in den Menschen doppelt so alt werden als zu den Zeiten der Entstehung dieser religiösen Formel, als nicht mehr zeitgemäß empfunden:

„Weil die Beziehungen gar nicht mehr so auf Dauer angelegt sind. Sie sind – man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen – transitorisch geworden“.

In Zeiten also, in denen man vornehm von „serieller Monogamie“ spricht, scheint die Institution der Ehe verbunden mit lebenslanger Treue zunehmend in Frage gestellt:

„Ich war zweimal verheiratet, glücklich. Ich nur einmal, sagte er. Und glücklich? Vielleicht drei Jahre. Dann kannten wir uns. Kann man dann noch glücklich sein?“

Gleichwohl gibt es das Verlangen nach Ordnung, Stabilität und Verlässlichkeit für den anderen:

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Georges Simenon – „Fremd im eigenen Haus“

Rating: ★★★★★ 

Rechtsanwalt Hector Loursat hat sich in seinem Haus verkrochen, seit ihm seine Frau vor achtzehn Jahren mit einem anderen davonlief.

Seither lebt er einsam in seinem Arbeitszimmer und verkommt – er, der einst gefeierte Anwalt, nun mit Ende 40 dem Alkohol verfallen und ohne emotionale Beziehung zu seiner inzwischen erwachsenen Tochter, mit der er jeden Tag wortlos lediglich die Mahlzeiten einnimmt.

„Ein guter Ofen, dunkelroter Rotwein und Bücher, alle Bücher dieser Welt. Das war Loursats Welt.“

Doch eines Nachts liegt in seiner kaum mehr genutzten und fast leeren Villa ein Toter – und Loursat erfährt vom Doppelleben der seiner ansonsten biederen Tochter. Der Tote, ein kleiner Gauner, den die Clique mit einem gestohlenen Auto angefahren hatte und hier versorgt werden sollte, wurde offenbar von einem der jungen Leute erschossen.

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