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Neulich googelte ich nach einem Fahrrad für meine Tochter. Seither finde ich Werbung für Damenfahrräder bei jedem Besuch auf „Wetteronline“. Dass amazon mein Kaufverhalten in- und auswendig kennt, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt, begrüße sogar, dass mir „meine Empfehlungen“ gezeigt werden, denn an das Zeitalter des Massenmarketing glaube ich schon lange nicht mehr. Eins-zu-eins-Marketing ist das Gebot der Stunde und die Computertechnik gibt das inzwischen her.
Dass google im großen Stil Daten sammelt, ist ebenfalls hinreichend bekannt. Wer genau hinschaut, findet neben seiner Suchanfrage in der rechten Spalte stets Werbung, die eben so gar nicht zufällig auf genau das Suchwort hin passt. So weit, so gut. Doch woher weiß Wetteronline von meiner Suche nach einem Hollandfahrrad? Und war es ein Zufall, dass amazon mir just Anfang Juli eine Dänisch-CD empfahl? Oder wusste amazon, woher auch immer her, dass ich bei Wetteronline den aktuellen DK-Wetterbereicht angeschaut hatte? Sind verschiedene Internetanbieter inzwischen miteinander vernetzt? Wenn ja, wäre das nicht ein Fall für den Datenschutz? Oder war alles nur Zufall?
Nein, schreibt Frank Schirrmacher in seinem außerordentlich umfangreich recherchierten Wissensbuch zur Rolle der Computer im 21. Jahrhundert. Der Mensch wird zunehmend gläsern, ohne dass er merkt, wie Informationen über ihn gesammelt werden. Wer heute die Hände auf die Tastatur legt und ins Internet geht, hinterlässt jede Menge Spuren wie einst Freitag bei Robinson Crusoe am Strand. Dabei bleiben die Daten tatsächlich rechtskonform anonym – kein Mensch bekommt sie zu sehen. Diese Arbeit übernehmen Computer, geräuschlos.
Frank Schirrmacher wird von vielen des Kulturpessimismus bezichtigt. Doch wenn Schirrmacher das Gefühl der digitalen Überforderung aufgreift, das sich nicht nur in Deutschland breitmacht, trifft er zumindest den Nerv der „Digital Immigrants“, also jener älteren Nutzer, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind. Ein iPhone mit mehr als 30.000 „Apps“ lässt so manchem den Kopf schwirren – „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“ heißt daher auch das erste Kapitel. Nie war die Anzahl der Informationen so groß wie heute. Nie war die Forderung des großen Soziologen Niklas Luhmann nach „Reduktion von Komplexität“ berechtigter als heute.
Und genau darum geht es letztlich in diesem Buch: Den digitalen Druck eines immer intelligenter ausufernden elektronischen Netzwerks, von dem man vermutet, dass es das menschliche Hirn nicht nur psychologisch, sondern auch neurologisch verändern kann. Es immer schwerer, zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Die Frage nach dem „freien Willen“ wird immer drängender.
Im zweiten Teil versucht Schirrmacher, aus der kognitiven Krise auszubrechen und freien Willen und Humanismus zu retten. Doch auch Schirrmachers Buch birgt immense Informationsmengen. Kein Wunder, kann doch der Autor als Herausgeber der FAZ auf einen weiten Mitarbeiterstab und großartige Datenquellen zurückgreifen. Unzählige Studien, Artikel und Ideen werden in einen erzählerischen Fluss eingebracht, um das komplexe Thema für ein gebildetes Massenpublikum verständlich zu machen. Die vernetzten Gedanken drohen die Buchform zu sprengen. „Intellektuellen Wissensdurst“ werfen ihm seine Kritiker vor, verbunden mit den „Jagdinstinkten eines Boulevardjournalisten“, kluge Gedanken mit Panikmache, Kulturpessimismus mit Zukunftseuphorie.
Denn wenn Schirrmacher den versöhnlichen Gedanken formuliert, dass zukünftig die Speicherung des Wissens den Maschinen überlassen wird und das vom Memorieren befreite menschliche Hirn einen neuen evolutionären Schritt nach vorne tun kann, dann fehlt so manchem „Digital Native“ und „Immigrant“ allein der Glaube. Entfesselte Technik ist nicht erst seit Erfindung der Computertechnologie ein Albtraum.
Denn auch das Buch selber ist argumentativ nicht immer konsistent und gepaart mit einer gewissen Sprunghaftigkeit sind dies beides typische Zeichen (informativer) Überforderung. Und Schirrmachers Versuch, Strategien zur „Wiedereroberung der Selbstkontrolle“ zu formulieren, wirkt auf den Leser ein wenig bemüht und erinnert an Schulaufsatzzeiten sowie Bert Brecht: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“
Tag Karl-Heinz
Da Du das Publikum mittels Brecht aufforderst: „Verehrtes Publikum, los, such Dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“, hab ich diese Anregung:
http://www.galerie-illmer.de/Holz_part.htm
Schöne und besinnliche Alternative zu Büchern, Fernsehen, Internet und Medien-Hype wären da Baum-Bücher… dazu lese man mal wieder das kleine, feine und weise Büchlein vom deutschen Südsee-Häuptling Tuiavii aus Tiavea – nur wer noch das einfache, natürliche und arbeitsreiche Leben kennen gelernt und selber gelebt hat, weiß um dessen unbezahlbaren, unbeschreiblichen, unmittelbaren und haptischen Wert. Weder ein Frank Schirrmacher-Wissensbuch noch ein Uli Wickert-Krimi können einen derartig aromatisch-köstlichen Duft erzeugen, wie er beim Saftgewinnen von Holunderbeeren oder Hagebutten die Wohnung durchschwebt… und das Ergebnis kann man trinken oder essen, ohne dass es das Gehirn verändert – es sorgt höchstens für sinnlichen Genuss und Wohlbefinden… 😉
Das Internet und Literatur-Sendungen haben zumindest den Wert , dass man intelligente Rezensionen über viele Bücher und Literaten lesen kann, die man sich schon aus finanziellen Gründen nicht alle kaufen kann. Insofern hat man auf diese Weise gleichzeitig eine Zeitersparnis und Erkenntnisse gewonnen… und zugleich kann man ein Gläschen Holundersaft trinken, oder bei besonders guten Rezensionen, wie jene über das Buch von Frank Schirrmacher (das ich mir natürlich gern kaufen würde) einen Holunderlikör… 😉