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„Abschied von meinem Vater“ ist ein vielschichtiges Buch – und so kann auch der Titel unterschiedlich verstanden werden. Natürlich geht es Tilman Jens nicht nur um die Demenz seines Vaters. Es geht ihm auch um den Abschied von dieser „deutschen Instanz“.
Dabei richtet Tilman Jens nicht über die Tatsache, dass sein Vater – und viele andere in seinem Buch genannten deutschen Schriftsteller und Menschen in öffentlichen Ämtern – Mitglied der NSDAP oder anderer Organisationen der Nationalsozialisten gewesen ist, sondern einzig darüber, dass die meisten zu feige oder opportunistisch waren, dieses zuzugeben.
Doch wer so offen und donnernd wie Walter Jens über andere richtete, die Ihre Vergangenheit nicht rechtzeitig offenlegten, wer für Rechtschaffenheit, Offenheit, Demokratie und Integrität eintrat, wer sich selbst zur moralisch-intellektuellen Instanz des Nachkriegsdeutschland krönte, an diesen dürfen, ja, müssen besondere Maßstäbe angelegt werden.
Und wer könnte es nicht verstehen, dass auch im längst erwachsenen Sohn eine Welt angesichts der erdrückenden Tatsachen und der „Schweigekrankheit“ zusammenbricht? Und so mutmaßt Tilman Jens nicht zu Unrecht über den zeitlichen Zusammenhang von Demenz und Aufdeckung der „Jugendsünden“ seines Vaters. „Das ist mir nicht erinnerlich“, lautete ein Satz eines deutschen Bundeskanzlers, der über unsaubere Parteispenden keine Auskunft geben wollte.
Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Wahre Integrität ist offenbar sein Ding von Natur aus nicht. Und was er nicht wahrhaben will, das vergisst oder verdrängt er.
Fazit: Ein bedrückendes, zweifelndes und verzweifeltes Werk, das größte (Hoch-) Achtung verdient.