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Denn „Der Turm“ ist die Geschichte über den Untergang der DDR. Die Handlung beginnt 1982, endet am 9. November 1989.
Wie Siegfried Lenz in einem Interview der “ZEIT” schrieb, gibt es als Schriftsteller keine Möglichkeit, von sich selber abzusehen: “Was immer du schreibst, du gibst etwas von dir selbst preis. Man kann nicht über andere schreiben, ohne zugleich über sich selbst zu schreiben. Und also durchblicken zu lassen, was einen selbst zutiefst bedrückt.” Wir dürfen davon ausgehen, dass Uwe Tellkamps „Turm“ in diesem Sinne zum großen Teil selbst erlebte Realität ist – so verliert zum Beispiel auch Tellkamp wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ seinen Medizinstudienplatz und wird 1989 verhaftet.
Die Erzähler sind drei miteinander verwandte Charaktere aus einem von Bildungsbürgern bewohnten Villenviertel Dresdens, oberhalb der Elbe im Stadtteil „Weißer Hirsch“, im Buch die „Turmstraße“ genannt – von der sich der – mehrdeutige – Titel ableitet: „Turm ist zunächst einmal die Bezeichnung für das Stadtviertel, in dem der Roman spielt. Dann ist an den Elfenbeinturm gedacht, auch an die ‚Turmgesellschaft‘ natürlich. Aber man kann ebenso an den Babylonischen Turm denken, der einstürzt, an die Sprachverwirrung, die am Ende der DDR vorherrschte, die Kakophonie.“ (Tellkamp in einem Interview)
Die „Turmgesellschaft“ ist ein Referenz auf Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, bereits dort auch abgekürzt als „Turm“ bezeichnet. Auch bei Goethe werden die Machenschaften des „Turms“ und seine Ziele nur sukzessive dargestellt und erst in den letzten Büchern explizit dargestellt. Der „Turm“ war den ganzen Roman über schon präsent und hatte auf Wilhelm und die anderen Personen entscheidenden Einfluss, auch wenn der Leser anfangs nicht realisiert, dass nahezu sämtliche im Roman geschilderten Vorgänge im Zusammenhang mit der „Turmgesellschaft“ stehen, deren Aufgabe die Erziehung der Menschen ist – allen voran die des Protagonisten Wilhelm, der vom Turm unbemerkt sein Leben lenken lässt.
Auch Uwe Tellkamp schildert verschiedene Milieus der DDR und deren Zusammenhang wie Jugendbewegung, Bildungswesen, Militär, Gesundheitswesen, den Kreis der Literaturschaffenden sowie Nachbarschaft und Familie.
Da ist der Lektor Meno Rohde, der sich immer mehr in sich selbst zurückzieht, in Gesellschaft kaum mehr Stellung bezieht, um sich irgendwann ausschließlich seiner zoologisch-biologischen Leidenschaft zu widmen: Der Erforschung der Zelle als „kleinste Einheit des Lebendigen“.
Da ist der Schwager Richard Hoffmann, ein bekannter Chirurg an der Dresdner Klinik und, anders als Meno, kein Einzelgänger. Er nimmt sich Freiheiten, vor allem amouröse, führt ein Doppelleben: Seit Jahren unterhält er eine Liebesbeziehung mit der Chefsekretärin des Klinikrektorats, von der er auch ein Kind hat.
Und da ist Christian Hoffmann, Richards Sohn, die Hauptfigur dieses Gesellschaftsromans. Er ist zu Beginn des „Turms“ siebzehn Jahre alt, intelligent, ein Streber. Sein Schicksal: Kind freiheitsliebender Eltern der „Turmgesellschaft“ zu sein. Der Spagat zwischen anerzogenem Wahrheitsanspruch und notwendiger Lüge wird für ihn zur Zerreißprobe: „Aufrichtigkeit, auch und gerade dann, wenn es brenzlig wurde, war er nicht so von seinen Eltern erzogen worden? Gleichzeitig übten sie mit ihm das Lügen . . . .“
Was immer wir im Westen über den ehemaligen Osten gehört oder gelesen haben, dieses Buch erlaubt uns einen Blick hinter die Kulissen und unter die matt blinkende Oberfläche des einstigen „Sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates“. Wir erleben die Überreste einstigen Bürgertums, das im Turm eine Art Gegenwelt zum proletarischen Arbeiter- und Bauernstaat bildet. Die bürgerlichen Feingeister können schon aus ästhetischen Gründen nichts mit dem einfachen und groben DDR-Sozialismus anfangen. Klasse lässt sich eben nicht ausrotten und Hoffmann ist nicht nur Name, sodnern auch Programm.
Tellkamp schickt den Schüler Hoffmann nach dem Abitur zur Volksarmee, lässt ihn als NVA-Unteroffizier bei den „Panzern“ dienen, wo er es als „Brille“ nicht leicht hat. Nach staatsfeindlichen Äußerungen landet er nach Paragraph 220 StGB (Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung) für ein Jahr im Gefängnis – diesen Straftatbestand gab es in der DDR. Er wird Insasse der berüchtigten Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt. Dort gelingt es Christian, der bei der NVA zunächst als „Muttersöhnchen“ gegolten hat, zum unauffälligen „Nemo“ („Niemand“) zu werden: „Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand.“
Doch als er zurück in der NVA am 3. Oktober 1989 einen Polizeieinsatz unterstützen soll und dort erlebt, wie seine Mutter verprügelt wird, verweigert er sich dem System – wird aber nur mit Urlaub „bestraft“.
Uwe Tellkamp hat zu Recht den „Deutschen Buchpreis“ im Jahre 2008 erhalten. „Der Turm“ ist ein Zeitdokument eines menschenverachtenden Staates, der lediglich mit einem roten Anstrich versehen die despotischen Machenschaften des NS-Regimes fortgesetzt hat.
Sylvester Groth liest die knapp zehnstündige, gekürzte und autorisierte 967-seitige Lesefassung auf 8 CDs kongenial und virtuos vor.