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Mit „Vorabend“ liegt nun der fünfte Band einer autobiographischen Chronik vor, die – laut Autor – auf insgesamt zwölf Bände angelegt ist und die sich nichts weniger vorgenommen hat, als ein alles umfassendes Epochenbild bundesrepublikanischer Realität zu zeichnen.
„Man muss die ganze Gegend erzählen, die Zeit und alles, was nicht mehr da ist.“
Vielleicht resultiert diese manische Konservierungswut Peter Kurzecks biographisch aus dem Verlust der eigenen Heimat in Böhmen, hat hier ihren Ursprung?
Doch: „Wie soll man das alles aufschreiben? Alles gleichzeitig?“ „Wie soll man die Zeit erzählen?“ „Geht das: So erzählen, dass die Zeit stehen bleibt?“
Seit Jahren widmet sich Peter Kurzeck diesem literarischen Großprojekt: Er erzählt vor allem aus dem Leben in der hessischen Provinz. „Vorabend“ erstreckt sich dabei vom Beginn der fünfziger bis in die späten siebziger Jahre, in denen sich das Land in unerschütterlichem Fortschrittsglauben verändert.
Kurzeck beschreibt diese Zeit aber vor allem auch als „Erfahrung des Verlusts“ und zeigt, wie das Wirtschaftswachstum seinen mittelhessischen Landstrich verändert bzw. nachhaltig zerstört hat und erzählt diese Entwicklungsgeschichte bis in die kleinsten Details.
„Wieder Herbst“, heißt der erste Satz in diesem neuen Roman, nachdem frühere Romane „Kein Frühling“ oder „Oktober – und wer wir selbst sind“ hießen. „Vorabend“ nimmt dabei alle früheren Romane Kurzecks auf, wiederholt sie, erneuert sie, schreibt sie weiter.
Denn wenn Peter Kurzeck sich an etwas erinnert, erinnert er sich auch daran, wie er sich damals an etwas anderes erinnert hat. So sind die Zeiten und mit ihnen die Geschichten ineinander verwoben. Kurzeck schafft Momente, in der er vom Erzählen erzählt. Das entspricht seiner am Mündlichen orientierten Schreibweise. Man könnte sich darin verirren und nicht wieder hinausfinden – doch Kurzeck ist ein ortskundiger, versierter Führer.
Ausgangspunkt der Erinnerungsarbeit dieses Buchs sind einige Tage im Herbst 1983 – aus dieser Zeitnische heraus entwickelt der Erzähler seine Erinnerungen. Es ist faszinierend, wenn Peter Kurzeck wie in einem scheinbar nie abreißenden Erinnerungsstrom schreibt.
„Manchmal weiß ich’s Wort für Wort, und manchmal steht es plötzlich da.“
Von Juli bis September 2010 hat Peter Kurzeck im Frankfurter Literaturhaus seinen neuen Roman öffentlich diktiert. Er erzählt, ohne damit je wieder aufzuhören, weil, wie er sagt, beim Erzählen „immer Gegenwart ist“. Und mit eben diesem Erzählen rettet er sich und die Dinge vor dem unaufhaltsamen Verschwinden in der Vergangenheit. Deshalb muss er „durch das Jahr, all die Jahre, muss die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist“. Dabei lässt sich Kurzeck von seiner Freundin Sibylle und seiner Tochter Carina immer wieder zum Weitererzählen anfeuern.
Mit seinem Sinn fürs Vergängliche ist Kurzeck ein moderner Romantiker. Doch das Alte ist bei ihm dabei nicht etwa besser, es ist nur anders, und die Sehnsucht gilt ihm nur, weil es eben nicht mehr existiert.
Die Welt wird kostbarer, wenn man Kurzeck liest. Die Menschen werden besser, aber nicht deshalb, weil sie fälschlicherweise für gut erklärt würden, sondern weil Kurzeck sie so unendlich liebevoll betrachtet!
„Alles, was du weißt, weißt du allein nur vom Zusehen. Vom richtigen Zusehen! Dass man steht und gafft und sich ausdenkt, wie es für diese Menschen, Tiere und Pflanzen ist, dass sie jetzt diese Menschen, Tiere und Pflanzen sind. Jetzt und immer. Und genauso die Häuser und Wolken und Steine, Dampfloks, Frachtkisten, Zettel und Staub im Wind. Alles, was da ist. Man denkt es sich nur aus, sagte ich. Man kann es spüren. Mit dem ganzen Körper.“
Es ist ein unvermeidliches Paradox: Das Wirkliche muss sich erst in Erinnerungen verwandeln, um als Wirklichkeit wahrnehmbar zu sein.
„Ist das jeden Abend wieder, dass dein Leben dir vorkommt wie ein einziger langer Tag? Oder als ob du dir alles selbst ausdenkst und immer weiter selbst ausdenken musst?“
Wer für Peter Kurzecks Erinnerungsarbeit und Erzählweise empfänglich ist, dem droht eine lebenslange (Sehn-) Sucht nach seinen Texten.
Auf 6 CDs und 355 Minuten trägt Peter Kurzeck im Hörbuch von h2 und dem SR Auszüge aus seinem 1000-seitigem Roman vor.