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Dieses Tagebuch (vorerst) „letzter Hand“ umfasst die Jahre 1956 – 1970. Kurz vor seinem Tode hat Walter Kempowski seinen langjährigen Mitarbeiter Dirk Hempel mit der Herausgabe des sogenannten „Sockeltagebuchs“ betraut.
Das über 600 Seiten starke Werk mit bisher unveröffentlichtem Material komplementiert seine bereits veröffentlichten vier bzw. fünf Tagebücher. Hempel betont im Nachwort, dass es sich um einen „literarisierten“ leserfreundlichen Text handelt, nicht um eine historisch-kritische Edition.
Kempowski selber hat diese Tagebuchaufzeichnungen im Jahre 2005 noch redigiert und mit vielen Fußzeilen als Erläuterung ergänzt. Seine Tagebuchaufzeichnungen vor diesem Datum sind durch die Verhaftung und Enteignung verlorengegangen, ebenso wie jene aus dem Zuchthaus Bautzen selber.
Sein Motiv ist eindeutig und ihm durchaus bewusst: „Ich habe die Familie zerstört, nun suche ich sie auf Papier wiederaufzubauen.“ (…) „Und alles nur, weil ich 14 Tage meines Lebens wie ein Idiot gehandelt habe, ohne jede Vernunft.“
In den ersten Jahren nach seiner Entlassung aus Bautzen sind die Aufzeichnungen noch nicht so umfassend, wie wir das von den Tagebüchern gegen Ende des Jahrhunderts kennen. In diesen Aufzeichnungen wird nicht nur der Werdegang zum Schriftsteller sondern auch die geistige Verfassung der jungen Republik dokumentiert: Der Leser erhält Aufschluss über das politische Klima, über die Atmosphäre und Situation der Adenauer-Zeit.
„Aber all das, was man mit sich herumträgt, muß doch mal raus.“
Die ersten Jahre handeln von nachgeholtem Abitur und Beginn des Studiums an der PH in Göttingen. Dort lernt er auch seine Hildegard kennen, später „Hickele“ oder „Hicke“ genannt.
Neben einer ausführlichen Dokumentation des pädagogischen Werdeganges bis zum Lehrerdasein in Breddorf und später Nartum sowie der Liebesgeschichte mit Hildegard Janssen, die 1960 seine Frau wurde, zeigen die Notizen und Briefwechsel mit Personen des Literaturbetriebs Kempowskis Weg zum Schriftsteller – hier gibt es Erstaunliches zu entdecken.
Die langjährige Korrespondenz mit dem damaligen Rowohlt-Lektor Fritz J. Raddatz zeigt, wie beschwerlich der Weg bis zur ersten Veröffentlichung war. Raddatz urteilt 1962, dass Kempowski einen „konventionell-dürftigen Ton“ und „gepflegten Dilettantismus“ pflege. Kempowskis unerschütterlicher Durchhaltekraft münden schließlich im Erscheinen des Haftberichts „Im Block“ 1969 bei Rowohlt.
Sein allererstes Textangebot machte Walter Kempowski, wie man hier erfährt, 1958 dem Bärenreiter-Verlag: Er soll darin von seinem kirchenmusikalischen Erweckungserlebnis mit dem Gefängnischor, dessen Leitung er 1954 übernommen hatte, berichten.
„Ich war damals nicht religiös. Ich bin es auch heute nicht. Weil es nur zwei Alternativen gibt, Materialismus und Idealismus, wählte ich den I. und damit Gott.“
In den 60er Jahren werden die Lücken im Tagebuch immer größer, manchmal schreibt Kempowski monatelang nichts. Das ändert sich erst wieder Ende der 60er Jahre. Wie viel der manische Mann aus Nartum geschrieben hat, was nie veröffentlich wurde, erfährt der Leser in diesem Sammelwerk ebenso wie den langen Weg bis zu ersten Veröffentlichung bei Rowohlt.
Ihm selber ist die Ursache des bis zum Masochismus gehenden Arbeitspensums durchaus bewusst: „So wäre dann also mein Bemühen um die Biographie ein sublimiertes Schuldgefühl. Daher dieser alles verzehrende Eifer!“
Doch nicht allein die Vergangenheit ist ihm ein Motor. Gleich stark entwickelt ist sowohl seine gefühlte Einsamkeit wie auch sein – ggf. daraus entstehendes noch größeres Bedürfnis nach Wahrnehmung und Anerkennung: „Alle Menschen sind einsam, die meisten wissen es nur nicht.“
Noch im Jahre seiner Entlassung aus Bautzen sehnt er sich nach einer „Bruderschaft“, die er damals im Christentum zu finden meinte, um Menschen gleichen Wesens zu suchen und zu finden. Wie gering sein Selbstwertgefühl bis zu seinem Durchbruch als Schriftsteller gewesen sein muss? „Zwei frühere Schülerinnnen getroffen: <<Ich war doch immer nett zu Euch, was?>> Selbst hier liegt einem an geringen Lob. Jeder Mensch will das.“
Doch – oder gerade deshalb – hat er nie in seinen Bemühungen nachgelassen. Wird ein Manuskript angelehnt schüttelt es ihn ein paar Tage, dann schreibt er weiter. „Humor und Vorliebe für die Groteske umgab mich in reinster Form von frühester Kindheit an. Dazu vom Vater her viel Musik, Feinfühligkeit, scharfer Blick und Neigung zum Heroisch-Gewaltigen.“
Während die tonangebenden Autoren alle in Großstädten wohnten und Mitglieder der Gruppe 47 waren, bleibt Kempowski in jeder Hinsicht isoliert in dem kleinen Dorf Nartum („ … mein Gott, wo ist das Nartum“ – Horst Bienek), unterrichtet tagsüber Kinder und schreibt in den Abendstunden, am Wochenende und in den Ferien – „… wenn ich mich dadurch von allerhand Belastendem freischreibe.“
Es war ein langer Weg zur Anerkennung: „Der Wunsch, für voll genommen zu werden, ist so ausgeprägt (…). Diese Halbbildung im Selbstbewusstsein beginnt mir auf die Nerven zu fallen.“
Walter Kempowski hat dann – im Gegensatz zu manch anderen Geistgrößen – noch selber erleben dürfen, dass seine gigantische „Sisyphusarbeit“, wenn auch spät, Anerkennung bekommt – und konnte so halbwegs versöhnt mit seinem Schicksak im Jahre 2007 aus dem Leben scheiden: „Ich habe doch alles erreicht“ waren mit die letzten Worte.