Rating:
Manchmal entscheidet bereits der erste Absatz eines Buches bei manchem Leser darüber, ob er es weiterliest oder nicht.
Der erste „historische Kriminalroman“ der Autorin Petra Oelker beginnt wie folgt:
„Das Mondlicht glänzte geheimnisvoll auf dem unbewegten Wasser der St. Aubin’s Bay. Für die Schmuggler war die Nacht viel zu hell. Die engen Felsbuchten und die versteckten Höhlen der schroffen Nordküste lagen verlassen. Die ganze Insel schien zu schlafen. Die Bauern in ihren geduckten Gehöften aus grauem Stein, die braunen Kühe auf dem Weideland unter den zahllosen Apfelbäumen auf der Hochebene und in den engen Bachtälern, die Fischer und Händler an der sanften Südküste. Ein einsamer Reiter trabte von St. Aubin über den meilenlangen weißen Strand nach St. Helier am östlichen Ende der Bucht. Dort ragte Elisabeth Castle grau und trutzig aus den Uferfelsen. Nur in einem Turmfenster brannte ein trübes Licht.“
Das ist unerträglich! Adjektive stehen vor Nomen und schreiben diesen Eigenschaften (deshalb auch „Eigenschaftswort“) zu – und im VHS-Kurs lernt man das womöglich auch so. Profis bezeichnen die inflationäre Verwendung von Adjektiven hingegen als „Anfängerfehler“.
Gewiss, wer Hedwig Courths-Mahler mag, der wird mit Petra Oelker und ihrem „Tod am Zollhaus“ möglicherweise seine wahre Freude haben. Wer jedoch die Literatur liebt, sei sie nun modern oder althergebracht, in dem erzeugt ein solcher, mit bedeutungsschwangeren Adjektiven aufzuckerter Schreibstil, die einzig dem Zwecke des billigen (und überaus kitschigen) Effektes dienen, ein Gefühl, wie es einst JP Sartre in seinem Buch „La nausée“ beschrieb. Und, placet experiri, wie Lodovico Settembrini es sagen würde, ein Mond kann nun einmal nicht geheimnisvoll glänzen und eine Insel nicht schlafen.
Nun mag man mir vorhalten, einen Roman wie zum Beispiel „Der Zauberberg“ nicht gut mit einem Krimi wie diesem vergleichen zu können. D’accord! Zur Entkräftung dieses Einwands zitieren wir daher den folgenden ersten Absatz eines weltbekannten englischen Kriminalromans:
„Keuchend folgte Mrs McGillicuddy dem Gepäckträger, der ihren Koffer über den Bahnsteig trug. Mrs McGillicuddy war klein und beleibt, der Gepäckträger war groß und machte weit ausgreifende Schritte. Mrs McGillicuddy war zudem mit etlichen Paketen beladen, den Früchten der Weihnachtseinkäufe eines ganzen Tages. Es war daher ein ungleiches Rennen, und der Gepäckträger verschwand schon um die Ecke am Ende des Bahnsteigs, als Mrs McGillicuddy noch die Gerade entlanghastete.“
(Agatha Christie: „16 Uhr 50 ab Paddington“)
The scene is set! Hier muss man einfach weiterlesen!
Oder lassen wir einen französischsprachigen Krimiautor zu Worte kommen:
„Freitag, 7. November. Concarneau ist wie ausgestorben. Auf der beleuchteten Turmuhr der Altstadt, die über den Festungsmauern zu sehen ist, ist es fünf vor elf. Die Flut hat ihren Höhepunkt erreicht, und ein Sturm aus Südwest lässt die Kähne im Hafen aneinanderstoßen. Der Wind fegt durch die Strasse, wo man zuweilen Papierfetzen über den Boden huschen sieht.“ (Georges Simenon: „Maigret und der gelbe Hund“)
Ein guter Romananfang macht eben neugierig und Lust auf mehr. Manchmal reichen dazu nur drei Wörter: Vor einigen Jahren kürte eine Jury „Ilsebill salzte nach“ aus „Der Butt“ von Günter Grass zum schönsten deutschen Romananfang! Zu recht, denn in diesen sehr wohl bedachten drei Wörtern ist alles drin, was später ausführlich dargestellt wird.
Das Leben ist entschieden zu kurz, um schlechte Bücher zu lesen. Denn wir wollen die Zeit mit der Lektüre von Büchern ja nicht „vertreiben“, sondern sie anhalten, sie verstehen, uns in ihr – am liebsten unendlich – aufgehoben fühlen.
Dass Petra Oelker mittlerweile bereits den zehnten historischen Roman veröffentlichte und sich ihre Bücher offenbar reger Nachfrage erfreuen, hat so gar nichts mit einem literarischen Qualitätsverständnis zu tun.
Ceterum censeo: Der Diebstahl der Zeit sollte zukünftig ebenso bestraft werden wie der Diebstahl von Dingen!