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“Im Grunde kennt die Literatur nur zwei große Themen: Die Liebe und den Tod. Der Rest ist Mumpitz.” (MRR)
In diesem Sinne ist Monika Marons neuer Roman ein gelungener – denn er umkreist eben diese beiden existenziellen Fragen. Olga, die alte Freundin der Ich-Erzählerin Ruth, ausgebildete Schauspielerin, mit fast neunzig Jahren gestorben, Mutter ihres ersten Mannes. Trauerfeiern dienen nicht nur als Beweis des Mitgefühls mit den Angehörigen, sondern auch dazu, das Leben im Zusammenhang mit dem Verstorbenen Revue passieren zu lassen.
Doch nicht nur die Aussicht, bei der Beisetzung den Vater ihrer Tochter zu treffen, verstört sie. Denn vieles haben wir in unserem Gedächtniskeller gut eingeschlossen, um Störendes zu vergessen und weiter leben zu können. Sie fragt sich, „wo die ganzen Ichs überhaupt bleiben, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt?“
Als sie am Tag des Begräbnisses erwacht, verschwimmen ihr die Buchstaben vor den Augen, ihre Wahrnehmung ist getrübt. Ruth, unlängst sechzig geworden, hadert mit der eigenen Sterblichkeit. Auf dem Weg zum Friedhof in der Nähe von Pankow verfährt sie sich und gelangt stattdessen in einen Park, der sich als ein ziemlich verwunschener Ort herausstellt und wo ihr für den Rest dieses Tages Tote und Lebende erscheinen, skurrile Szenen entstehen, in denen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen – einzig real ein ihr zugelaufener Hund.
Die Erzählerin führt nun Geistergespräche mit den Toten ihres Lebens und es entsteht ein Dialog über alte Lieben, alte Wunden, Verrat, Abschiede – vielleicht auch nur mit den vielen Ichs, denn in ihren Tagträumen und (Selbst-) Gesprächen geht es vor allem um die eigenen Lebensentwürfe, über die Unmöglichkeit, ohne Schuld und ohne Wunden durchs Leben zu kommen, um Vergangenes, Verpasstes – und um das Sein, das Älterwerden und den Tod. Die verstorbene Olga taucht als Erste auf.
„Mein eigener Tod blieb für mich eine unvorstellbare, wenn auch mit Sicherheit zu erwartende Angelegenheit. Ich konnte mich auch nicht mit den Gedanken trösten, dass es nach dem Sterben eigentlich nicht schlimmer sein konnte als vor dem Geborenwerden (…), aber die Kränkung lag eben im Wegsein, während alles andere, die Stadt, die Straße, das Haus, der Stuhl, die Bilder, das Bett, noch da sein würde. In solchen Augenblicken wäre ich gerne religiös gewesen und beneidete alle Menschen, die ernsthaft an einen Hott und ihr Weiterleben nach dem Tode glaubte, obwohl ich nie verstand, wie ihnen das gelingen konnte.“
Nach Olga taucht der tote Bruno, Saufkumpan ihres zweiten, ebenfalls totgesagten Ehemannes auf. Zu DDR-Zeiten waren sie für kurze Zeit ein Paar, ehe Ruth ihn kurz vor der Hochzeit kurzerhand sitzenließ. Mit Bernhards Mutter, der verstorbenen Olga, blieb Ruth jedoch in Kontakt – und die gemeinsame Tochter Fanny wuchs bei ihr auf. Sie folgte dem Schriftsteller Hendrik, der im Osten nicht publizieren durfte, nach West-Berlin.
Maron war und ist aber immer auch eine wachsame politische Beobachterin – auch der westdeutschen Demokratie, in der sie seit 1988 Jahre lebt. Und so berichtet sie den im Park auftretenden Schimären von Margot und Erich Honecker:
„(…) wie es in unserer schönen neuen Demokratie gerade aussah, dass wir seit Jahren in einer monströsen Krise hingen, die von den geheimbundähnlich agierenden Regierungen im Verein mit undurchschaubaren Banken ausgenutzt wurde, um neue Kommissionen, Räte und andere Gremien zu schaffen, deren Namen über ihre Funktion nichts verrieten und die den Verdacht aufkommen ließen, sie seien den Arsenalen des Regimes entliehen, dem wir gerade entkommen waren, dass die Wahlen, nach denen wir uns so gesehnt hatten, auch jetzt keine Wahlen mehr waren, weil alle Parteien einander ähnelten, dass, was immer man auch wählte, das Gleiche herauskam (…)“
Es sind feinfühligen Passagen, die das Buch lesenswert und den Leser nachdenklich machen:
„Ich habe oft darüber nachgedacht, warum wir in einer Zeit, nach der sich die meisten später als der schönsten zurücksehnen, so enttäuscht vom Leben sind, dass wir schon wegen einer unerwiderten Liebe in Erwägung ziehen, auf den ganzen Rest zu verzichten; und warum wir dreißig oder vierzig Jahre später, wenn die Leidenschaften erlahmt und die Lieben entzaubert sind, wenn die Bilanz der Niederlagen und Erfolge fast abgeschlossen ist und Krankheiten und drohendes Siechtum die verbleibende Zeit schon verdüstern, warum wir dann so verbissen um jeden Tag kämpfen, martialische Operationen und Therapien erdulden, Gliedmaßen amputieren lassen, uns füttern und windeln lassen, nur noch um den Frühlingswind auf der trockenen Haut zu spüren, wenn er durch das offene Fenster bis an unser Krankenlager weht.“
Erst als es dunkel wird, verschwinden die Geister wieder, ebenso wie der ihr lieb gewordene Hund. Nur für ein paar Stunden war die Frau aus der Gegenwart gefallen.