Literaturen

Alles, was wir wissen, verdanken wir der Überlieferung durch Schriften, meist Büchern – und das seit fast 2000 Jahren.

Einst überdauerten Bücher Jahrhunderte, manche gar Jahrtausende. Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind Bücher nicht mehr das, was sie einmal waren. Seit der Anwendung des Holzschliffverfahrens halten die Bücher nicht mehr. Säurefreies und recyceltes Papier hat mit dem früheren Papier nur noch wenig zu tun. Der hohe Ligninanteil führt zum schnellen Vergilben des Papiers. Früher wurde Papier vor allem aus Lumpen (Hadern) gewonnen. Wegen der begrenzten Verfügbarkeit dieses Rohstoffs wurden ab etwa 1700 nach Alternativen gesucht. Im 19. Jahrhundert wurden Verfahren zur Gewinnung von Holzschliff und des höherwertigen, aber aufwendiger zu erzeugenden Zellstoffs entwickelt.

An der Form und an der Struktur des Buches hat sich seit seiner Erfindung trotz alledem bis heute nichts geändert. Auch das eBook nicht. Doch ob die neuen elektronischen Geräte wie das eBook auch nur Jahrzehnte überleben werden, ist ungewiss. Bereits nach wenigen Jahren wird vermutlich das heutige Format nicht mehr lesbar sein, man denke nur an die rapide Entwicklung von Floppy Disk (160 KB), 3,5″ Diskette (1,44 MB), CD-ROM (700 MB), DVD (4,8 GB), BLUE RAY DISK (50 GB). Denn das Problem sind nicht die heutigen Technologien, sondern die Geschwindigkeit, mit der sie einander ersetzen – Goethe nannte solche Tendenzen einst „veloziferisch“:

„Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es worauf die begildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“

Doch abgesehen von der Frage der Überlebensdauer bleibt die taktile, haptische, olfaktorische und emotionale Bindung an ein Buch. Da kommt das sterile eBook nicht mit. Umberto Eco sagt in einem Interview in der FAZ vom 11. Dezember 2010:

„Eine kleine Minderheit elektronischer Taliban wird nur mit iPads und e-Books umgehen, alle anderen werden Bücher weiterhin brauchen.“

Und warum braucht der Mensch Literatur? Es geht – wie seit Jahrtausenden – darum, anderen Menschen Geschichten zu erzählen. Geschichten, die helfen, das Leben besser zu verstehen oder es einfach nur besser zu ertragen. Denn jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Gute Literatur handelt davon, wie sich das Individuum gegen das Schicksal auflehnt oder wie es sich mit dem historischen Zeitgeschehen auseinandersetzt. Klassisch ist die biographische oder autobiographische Verarbeitung eines persönlichen Schicksals. Die Literatur, so ein geflügelter Gedanke, beginnt da, wo der Journalismus aufhört.

Literatur erfüllt unterschiedliche Zwecke. Sie kann helfen, dem aktuellen Leben für eine Weile zu entfliehen. Sie kann helfen, das Leben besser zu verstehen. Sie beantwortet die Frage, was den Menschen und die Welt im Innersten zusammenhält. Doch ist Literatur nicht identisch mit der Wirklichkeit. Sie bildet eine jeweils eigene sprachliche Wirklichkeit, die nur in einem bestimmten Maße mit der Wirklichkeit korreliert.

Wer meint, die modernen Medien – wie zum Beispiel dieses Blog – böten Autoren heute mehr Möglichkeiten als Autoren einst, der irrt. So waren die „Horen“ (die Horen sind als Töchter des Zeus und der Themis Figuren der griechischen Sagenwelt, sie sind die Göttinnen der Jahreszeiten, des Schönen und der Ordnung) eine 1795–1797 von Friedrich Schiller herausgegebene Zeitschrift, an der auch Goethe, Fichte, Wilhelm von Humboldt mitwirkten, ein Journal für Weltbürger, der Philosophie und der Kunst gewidmet. Dabei versuchte Schiller die Zeitschrift als Vereinigung der „schönen“ und der gelehrten Welt darzustellen, die Kunst und Wissenschaft in einem „Zirkel“ zu verbinden. Goethe veröffentlichte darin sein „Elegien“ – als seine amourösen Erfahrungen aus seiner Rom-Zeit – und erntete viel Empörung.

Mit Schiller gab Goethe die „Xenien“ (griech. „Gastgeschenke“; nach dem römischen Dichter Martial und dem 13. Buch seiner Epigramme, die als Begleitverse zu Geschenken gedacht waren) heraus. Sie sind überaus polemische Angriffe auf die damalige Literaturzunft und erschienen in Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797 – in der Intention zu vergleichen mit dem Hohn und Spott mit dem Marx/Engels über jene Zeitgenossen herfielen, die „breimäulige“ Beiträge zur Vulgär-Ökonomie verfasst hatten.

Goethes erster Versuch einer eigenen Zeitschrift – „Propyläen“ (als Propylon wird der Torbau bezeichnet, der in den üblicherweise durch Mauern umgrenzten Bezirk griechischer Heiligtümer oder später auch in andere öffentliche Gebäude bzw. Anlagen führt) datiert aus dem Jahre 1798. Mit der Gründung der Propyläen verband Goethe die Absicht, durch kunsthistorische Forschung, durch kunsttheoretische Reflexion und kunstkritische Analyse im Sinne eines klassizistischen Kunstprogramms auf die Künstler und Kenner ihrer Zeit einzuwirken. Dichtung und Kunst sollten anhand von Vorbildern aus der klassischen Antike zeigen, wie der einzelne seinen Charakter veredeln könnte. Die Zeitschrift war in ihrer Tendenz gegen die Romantik gerichtet. Doch das Peridiucum musste bereits im Jahre 1800 wieder aufgegeben werden: zu wenig Suskribenten. Ab 1802 erschienen die Rezensionen in einem Beiblatt der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“.

Im Jahre 1816 gab Goethe dann sein erstes umfangreiches Heft „Ueber Kunst und Alterthum“ heraus, das ihm als Plattform zur Erörterung vieler Themen diente, die ihm am Herzen lagen. Die Hefte beschäftigten sich mit Fragen der Kunst und der Kultur, der Literatur und Dingen des Brauchtums, druckten aber auch Maximen und Reflexionen und Gedichte. Nur der Politik enthielten sie sich gänzlich.

„Im Grunde kennt die Literatur nur zwei große Themen: Die Liebe und den Tod. Der Rest ist Mumpitz.“ (MRR)

Wir sehen an diesen wenigen Beispielen, das Medium war vor 200 Jahren ein anderes, der Aufwand unvergleichlich höher, doch das Ziel das gleiche. Gewiss, heute führten Goethe und Schiller anspruchsvolle eigene Blogs.

„Jeder weiß, dass das Leben irgendwann endet. Aber selten machen wir uns klar, dass wir selbst es sind, die sterben werden. Während die Welt ungerührt weiterexistiert. Literatur öffnet uns manchmal für Momente die Augen für diese Wahrheit, vor der wir sie sonst zumeist schließen.“ (MRR)