Karlheinz A. Geißler – “Es muss im Leben mehr als Eile geben”

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Karlheinz A. Geissler verfügt über ein profundes Wissen im Thema „Zeit“. Davon können die Autoren von „immanenten“ Bestsellern zum Thema „Zeitmanagement“ nur träumen. Geisslers Ansatz ist dabei aber ein anderer. Beschäftigen sich die einen damit, wie man trotz prall gefüllter Terminkalender noch Zeit „gewinnen“ kann, beschäftigt sich Geissler mit den Erklärungsmustern für die aktuelle „Suche nach der verlorenen Zeit“.

Denn mit der zunehmenden Beschleunigung wird die Gegenwart immer schneller zur Vergangenheit. Andere Autoren nennen dieses Phänomen treffend „Gegenwartsschrumpfung“. Selbst „Freizeit“ ist zum „Freizeitstress“ geworden, weil niemand sich mehr „langweilen“ kann, darf oder will.

Es ist ein Vergnügen, von Geissler historisch und philosophisch (verständlich und nie belehrend) „durch die Zeit geführt zu werden“. Geissler zeigt auf, wie sich „Zeit“ – oder wohl besser ihre Wahrnehmung und Bedeutung – in nur wenigen Jahrhunderten drastisch verändert hat, immer im Takt der gesellschaftlichen Entwicklungen. Eine Vielzahl von historischen Beispielen (vom Hahn auf dem Mist bis zum Cäsiumatom), gerade auch bei den Setzungen und Erfindungen der Zeitmessung, bebildern dies eindrucksvoll. Der Mensch als „Zeitbinder“ ist nichts mehr, die Zeit ist alles. Der Mensch „ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit“.

Die gigantische, krankmachende und unnatürliche „Beschleunigung“ des subjektiven Zeitgebrauchs wird durch Beispiele parallel verlaufender technologischer Entwicklungen (wer geht schon noch zu Fuß, wer schreibt Briefe mit dem Füllhalter, wer feiert noch besinnliche Feste?) plastisch nachempfindbar. Auch „Fastfood“, „Arbeitsessen“, „Quickies“ sind ebenso wenig zufällige Entwicklungen wie die „Reduktion der Arbeitszeit auf ihren Geldwert“ („Zeit ist Geld“).

Geissler macht immer wieder deutlich, dass unsere Bemühungen, die Zeit zu „beherrschen“, „Leerzeiten“ zu vermeiden und die „Zeit zu managen“ unnatürlich sind. Denn nur in der Ruhe liegt die Kraft. Operative Hektik ist allemal ein Zeichen geistiger Windstille.

Es ist ein Buch für alle, die „den Gang rausnehmen wollen“, es aber bisher nicht geschafft haben. Geissler kann bei der persönlichen „Ent-schleunigung“ helfen, Einsicht vorausgesetzt. Wer in diesem Buch aber „Patentrezepte“ zu finden hofft, wird enttäuscht werden, denn „Zeit ist das, was wir haben, wenn wir unsere Uhren wegwerfen“ – und wer wird das schon tun können oder wollen?

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