John Boyne – „Der Junge im gestreiften Pyjama“

Rating: ★★★★★ 

Schon immer hat mich unsere Geschichte interessiert und begleitet, ganz besonders die furchtbare Nazizeit und dort der Holocaust. Immer wieder habe ich mir Filme angesehen, Bücher gelesen und bin zu Lesungen und Berichten von „Zeitzeugen“ gegangen.

Es kann mir dennoch nicht gelingen, dieses schreckliche Geschehen zu verstehen. Ich werde mich Zeit meines Lebens dafür schämen, dass so ein Wahnsinn von unserem Volk ausgegangen ist. Es gibt auch keine Entschuldigung und keine Erleichterung zu wissen, dass andere Völker vergleichbare Taten begangen haben. Manche Bücher musste ich dabei für Momente auf die Seite legen, weil es nicht zu ertragen war.

Trotz all dieser Erfahrungen werde ich nicht mit Steinen auf unser Volk werfen und mit Fingern auf unsere Eltern und Großeltern zeigen. Ich habe die Überzeugung, dass wir, aufgewachsen unter denselben Bedingungen, genauso handeln würden. Wir wären alle genauso in unser Unglück gelaufen und der Widerstand ungefähr gleich gewesen.

Obschon ich diese Erfahrungen mit mir kenne, habe ich wieder zu so einem Buch gegriffen – genau genommen habe ich es geschenkt bekommen und bin darüber überaus dankbar. Natürlich hat mich die Geschichte sehr betroffen gemacht, und ich hatte ständig Angst weiterzulesen, um nicht zu erfahren was passieren könnte. Es ist passiert, weil es geschehen musste, wenn auch etwas anders, als ich es befürchtet hatte.

Da muss eine Familie, wohnhaft in Berlin in einer noblen fünfstöckigen Villa umziehen. Der Grund: Versetzung des Vaters. Mit ihm ziehen die Mutter und zwei Kinder (Gretel und Bruno) und das Personal um. Der Junge (9 Jahre) ist todunglücklich über den Wohnungswechsel und will natürlich nicht. Der Umzug geschieht dann recht schnell und spontan auf Anordnung vom „Furor“.

Die Familie befindet sich an dem neuen Wohnort, einer völlig verlassenen Gegend, ein einziges Haus – bis auf ein riesiges Gelände, umzäunt mit hohem Stacheldraht und vielen Baracken. Trotz der anderen Schreibweise ist sehr eindeutig, dass es sich dabei um das KZ Auschwitz handelt.

Nun beginnt die tragische Geschichte von Bruno. Bruno ist jetzt noch trauriger: Das Haus ist kleiner, er hat keine Freunde mehr, schlimmer noch, überhaupt keine Kinder – was nicht stimmt, denn er bemerkt; dass auf dem umzäunten Gelände mit den Baracken nicht nur sehr viele Männer – wie er meint: Väter und Großväter – leben, sondern eben auch Jungen.

Er liegt im ständigen Streit mit seiner drei Jahre älteren Schwester. Er versteht natürlich nichts, und legt alles, was er im Laufe der Zeit erfährt, in seiner kindlichen Wahrnehmung aus. Irgendwann geht er an dem Zaun spazieren, weil er gerne forscht und auch sonst nichts zu tun hat, was natürlich streng verboten war und begegnet plötzlich einem Jungen (Schmuel) an diesem Zaun (bekleidet mit einem gestreiften Pyjama, gestreifter Kopfbedeckung, Barfuß und sehr mager). Bruno ist glücklich und sie sehen sich fast täglich.

Als er Schmuel zum ersten Mal trifft und sie miteinander sprechen erkennen sie, das sie beide am selben Tag Geburtstag haben und zudem gleich alt sind (15.04.1934). Sie unterhalten sie sich über den „Davidstern“ auf dem Pyjama von Schmuel, und Bruno erwähnt das leuchtend rote mit einem schwarz-weißen Muster auf der Uniform des Vaters.

Alles was jetzt geschieht, beinhaltet für mich die ständige Sorge, dass Bruno in seiner kindlichen Naivität etwas von dieser Freundschaft ausplaudert und dann geschieht, was eigentlich dann immer geschehen ist.

In den unterschiedlichen Szenen des Buches ist die Rangordnung in der Familie schnell klar, und damit auch verschiedene Auswirkungen aus dieser. In einem Rückblick wird ein Treffen mit Adolf Hitler (bezeichnet als „Furor“) und der Frau an seiner Seite (Eva) beschrieben (führt letztlich zu der Versetzung nach Ausschwitz).

Sehr vorsichtig und sensibel wird man an die verschiedenen Situationen herangeführt und erlebt die Zeit aus den Augen von Bruno intensiv mit. Alle Geschehnisse sieht er aus seiner kindlichen Sicht und interpretiert in diesem Sinne. Dadurch entstehen oft komische Bilder. Zum Beispiel eine Szene mit dem Bediensteten Pavel (Kellner und andere Dienste), als er von seiner selbst gebauten Schaukel fällt und sich verletzt. Pavel versorgt ihn liebevoll, fürsorglich und behandelt und verbindet die Wunden fachmännisch, dabei erfährt Bruno, dass Pavel Arzt ist, worauf Bruno antwortet, dass er doch Kellner sei und das aus seiner Sicht auch erklärt.

Bruno (wie die ganze Familie) erfährt immer wieder die Strenge des Vaters (in dieser Zeit aufgewachsene Leser können das gut nachempfinden), hält das aber für normal und verteidigt seinen Vater als einen guten Vater – was ihm dann noch deutlicher wird durch ein Gespräch mit der Bediensteten Maria. Maria berichtet, dass der Vater ihr und ihrer Mutter in schwerer Lage geholfen habe und er deshalb ein guter Vater sei – bzw. war – die Veränderung kann Bruno jedoch nicht heraushören.

Soldaten gehen im Haus ein und aus, der Vater ist täglich im Lager. Die Spannung der Zeit wird immer wieder spürbar: Ein Oberleutnant (immer im Haus – mit gutem Kontakt zur Mutter und Schwester Gretel – den Bruno nicht mag, weil er Pavel in einer Situation sehr gemein behandelt und später auch seinen Freund Schmuel), der selber in eine schwierige Situation kommt, weil er in einen Erklärungsnotstand über seinen eigenen Vater kommt (ausgewandert in die Schweiz, später ist er plötzlich nicht mehr da).

Sehr bezeichnend ist auch die Stelle über die Strenge des Vaters. Wenn Bruno das Zimmer des Vaters verlässt muss er dieses mit dem für die Zeit üblichen H.H.-Gruß tun (in soldatisch strammer Haltung. Als er einmal so das Zimmer verlassen wollte, wird er in aller Strenge zurückgerufen.

Bei dem Besuch von Adolf Hitler erwähnt Gretel, dass sie Französisch sprechen kann, was A. H. sehr negativ aufnimmt – wozu muss man Französisch können?. Als die Frau an seiner Seite (Eva) dann der Gretel gegenüber sogar erwähnt, dass sie auch Französisch kann, wird er sehr laut.

Als Bruno seinen Freund Schmuel eines Tages plötzlich in der Hausküche findet, freut er sich riesig. Schmuel soll für eine große Festivität Gläser putzen (weil er so schmale Finger hat). Bruno gibt seinem Freund, dem er den Hunger ansieht (und ihm deshalb immer wieder zu essen mitbringt), etwas zu essen. Schmuel hat Angst (was Bruno  überhaupt nicht versteht), dann aber doch das Essen annimmt. Der  Oberleutnant kommt hinzu, erkennt die Situation, stellt Schmuel zur Rede. Als dieser auf die Gabe von Bruno hinweist, erkennt Bruno plötzlich, dass sich eine schwierige Situation für ihn aufbaut und leugnet deshalb – worunter er später furchtbar leidet und erkennt (nachdem er Schmuel einige Tage nicht trifft), dass dieser dafür brutal geschlagen worden ist. Diese Lüge begleitet ihn bis zum Schluss.

Er erlebt, wie die eigene Mutter immer mehr verfällt und dem Alkohol ständig mehr zuspricht (wie Bruno meint, aus medizinischen Gründen Sherry trinken muss). Er ist dabei, als die Großmutter ihren Sohn bezüglich seiner Beförderung und der Uniform zur Rede stellt und nach einer heftigen Diskussion das Haus in Berlin verlässt, und es nie wieder zu einem Gespräch und Besuch kommt. Bruno schreibt ihr und schildert das neue Haus, das Leben und die Umgebung (kindlich, doch für die Großmutter klar verständlich).

Bruno will immer mit seinem neuen Freund Schmuel spielen (ziemlich zum Schluss sagt er noch: „Wir haben fast jeden Tag miteinander gesprochen; aber nie zusammen gespielt“). Er möchte ihn einladen oder ihn selber besuchen und kann nicht verstehen, dass Schmuel in Krakau mit elf Personen in einem Raum leben musste, kann auch den Zugtransport nicht verstehen (wo doch in ihrem Zug noch so viel Platz war), verteidigt seinen Vater, obwohl Schmuel anderer Meinung ist.

Dann kann die Mutter sich endlich durchsetzen, und sie darf mit den Kindern wieder nach Berlin zurück. Wieder ist Bruno traurig, denn er muss sich von seinem neuen Freund verabschieden – seine alten Freunde kennt er schließlich schon lange nicht mehr. Es kommt zum vorletzten Besuch. Schmuel berichtet völlig verstört, dass sein Vater verschwunden sei. Bruno berichtet ihm, dass sie in zwei Tagen wieder nach Berlin reisen werden. Sie verabreden sich ein letztes Mal für den nächsten Tag. Bruno will mit ins Lager, um nach Schmuels Vater zu suchen. Er will dazu einen gestreiften Pyjama anziehen, den er eigentlich gerne leiden mag. An ihrem Treffpunkt kann man den Zaun etwas anheben.

Den letzten Tag verbringt er im Konzentrationslager in Auschwitz. Trotz seiner Kindheit wird ihm schnell klar, dass ihm das nicht gefällt. Doch er will sein Versprechen halten und hilft bei der Suche nach dem Vater. Es wird immer später und die Chance das Lager unbehelligt wieder zu verlassen, immer geringer. Es ist kalt und regnet unablässig. Er erlebt das gnadenlose Handeln der Soldaten und möchte nur noch raus, weil es ihm auch zu spät wird. Plötzlich wird eine Gruppe zusammengetrieben, und Schmuel und er befinden sich mittendrin. Sie marschieren in einen Raum, der dann plötzlich geschlossen wird.

Wie bemerkt, wird diese fiktive Geschichte sehr vorsichtig und sensibel beschrieben. Durch die Sicht der Kinderaugen bekommt sie ihren eigenen Charakter. Und dennoch bleiben dieser furchtbare Druck, diese Spannung und die Tragik bis zum furchtbaren Ende.

Trotz alledem und der unwahrscheinlichen Last dieses Themas (man kennt das teilweise auch aus dem Buch „Jakob der Lügner“), bin ich dankbar für dieses Geschenk und diese Geschichte. Es ist ein ergreifendes Buch um ein Kapitel unserer Geschichte, das nie vergessen werden darf – auch wenn alle späteren Generationen keine Schuld trifft.

Die Gegenwart zeigt uns, dass wir weiterhin höchst wachsam sein müssen gegenüber Entwicklungen dieser Art. Als ich neulich bei einer Stadtführung hören musste, dass in einem jüdischen Viertel einer deutschen Großstadt die jüdische Schule bewacht werden muss, zeigte dies, dass es noch genügend ewig Gestrige auch bei uns gibt.

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