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Tatsächlich war Goethe selber knapp 60 Jahre alt, als er die erste Fassung dieser Novelle im Jahre 1807 schrieb, diese jedoch erstmals 1817 veröffentlichte. Goethes Tagebuch vermerkt weitere Arbeiten an der Novelle in den Jahren 1810, 1817, 1820, 1823, 1826-27. Die endgültige Fassung erschien dann im Jahre 1829: Es ist mithin die Novelle, an der Goethe am längsten schrieb; sie entstand als Teil seines Romans „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, der Fortsetzung von „Wilhelm Meisters Lehrjahre“.
Doch auch die Verwandtschaft zu den „Wahlverwandtschaften“ (1809) ist unverkennbar, auch wenn man sie als deren versöhnlichen Gegenentwurf betrachten darf.
Auch hier treffen wir auf vier Personen, zwei jüngere (Flavio und Hilarie) und zwei ältere (der Major und die Witwe), zwei Männer und zwei Frauen also. Auch hier verstricken sich diese in einer Liebe über Kreuz, doch die heitere und unbeschwerte Erzählweise macht deutlich, dass sich in diesem Falle alles positiv auflösen wird.
Der Major, eben jener Mann von fünfzig Jahren, erkennt, dass sich seine Jugend nicht verlängern lässt. Die verordnete „Verjüngungskur“ seines „theatralischen“ und zehn Jahre älteren Freundes hilft ihm zwar außerordentlich, aber weniger bei Hilarien, sondern viel mehr bei der Witwe.
Der junge Flavio hingegen lernt Mäßigung und die kokette Witwe erfährt die Gefahren, die in ihrem manipulativen Verhalten liegen. Am Ende bekommt jeder – anders als in den Wahlverwandtschaften – den adäquaten Partner.
Goethe moralisiert an keiner Stelle (was ihm ohnehin nicht liegt), sondern zeigt auf unterhaltsame Weise, dass nicht nur die Jugend – wie Wilhelm Meister – lernen muss, sich im (Liebes-) Leben zurechtzufinden, sondern auch im Älterwerden Gefahren lauern.
Wie sehr das Hauptmotiv der Novelle, die Liebe eines älteren Onkels zu seiner jüngeren Nichte, ureigenste Erfahrung Goethens ist, weiß der interessierte Leser aus dessen Marienbader Erlebnissen mit der blutjungen Ulrike von Levetzow.
Überaus gekonnt und souverän vorgelesen wird diese Novelle auf einer CD und 73 Minuten von Profi Dieter Mann.