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Nachfolgewerke von Erstlingsbestsellern haben es schwer. Auch wenn sie genau so gut sind wie der erste Wurf, erwartet der Kunde dieses Mal mehr. Das Reizniveau muss ständig steigen, will der Mensch Unterschiede wahrnehmen. Genau daran scheitern viele Autoren. Doch nicht Ferdiand von Schirach.
Er hat deshalb Fälle ausgewählt und geschildert, die in ihrer Skrupellosigkeit und Brutalität zum Teil deutlich über die seines ersten Buches hinausgehen. Das ist manchmal in seiner Spektakularität grenzwertig, ähnelt an Boulevardzeitungsjournalismus, wie in der ersten Geschichte „Volkfest“ oder in „Ausgleich“. Auch die Grenze zum Voyeurismus ist oft schmal. Über die m. E. unnötige Zunahme an Bestialität besonders auch in Kriminalromanen habe ich mich bereits an anderen Stellen hinreichend ausgelassen.
Unter dem Aristotelischen Motto „Die Dinge sind, wie sie sind“, erlaubt sich Ferdinand von Schirach den Kunstgriff, den Titel seines Buches zu konterkarieren: Der Leser nimmt teil an 15 „Stories“, bei denen manchmal sogar ein Richter den Angeklagten trotz objektiver Tatbestände von „Schuld“ freispricht.
Hinter allem steht die Einsicht, dass nichts an sich gut oder böse ist, allein unser Denken es dazu macht. Schuld hat im juristischen Sinne, wem die Justiz Schuld nachweisen kann. Als Strafverteidiger interessiert von Schirach dies, als Autor die moralische Frage, die Frage nach dem „Warum“? „Gerecht“ ist deshalb für ihn nicht das entscheidende Kriterium bei der Bestrafung eines Menschen, der in Konflikt mit dem Gesetz geraten ist, ihm geht es vielmehr um „angemessen“. Und deshalb handelt sein neues Buch faktisch so gar nicht von „Schuld“.
Wie im ersten Buch erlaubt sich von Schirach hier und da kurze Erläuterung zum deutschen Strafrecht oder gibt statistische Einblicke: „In einem Strafverfahren muss niemand seine Unschuld beweisen. Niemand muss reden, um sich zu verteidigen, nur der Ankläger muss Beweise vorlegen.“
Immer wieder lässt von Schirach den Leser scherenschnittartig in die Tiefen des menschlichen Orkus schauen. Dem Leser ekelt’s und gruselt’s heftig beim Blick in die verruchten Außenbezirke menschlichen Tuns. Er erträgt die Schilderung nur auf Grund der nüchternen Wiedergabe objektiver Sachverhalte und des lapidaren Duktus des Autors.
Manchmal ist es nur ein Synapsensprung, der einen Gedanken von einem Verbrechen trennt, sagt von Schirach. Die Frage der Schuldfähigkeit wird deshalb zunehmend an die wissenschaftlichen Disziplinen der Neurobiologie, Soziologie, Psychologie delegiert.
„Nulla poena sine lege“ – keine Strafe ohne Gesetz – ist ein juristischer Grundsatz. Angesichts der geschilderten Greuel wird einmal mehr deutlich, dass der Mensch des Gesetzes Bedarf, will Zivilisation gelingen.
Die knapp 200 Seiten des Buches sind schnell gelesen. Das liegt zum einen an der generösen Nutzung des Seitenformats und dem großem Zeichensatz, zum anderen an Schirachs prägnanter und distanzierter Schreibweise.
Fazit: Keine leichte Lektüre für wohlsituierte Bürger, könnte doch der unauffällige Nachbar von gegenüber ein skrupelloser Verbrecher sein!