Ferdinand von Schirach – „Verbrechen“

Rating: ★★★★★ 

Weil ich viel mit dem Auto unterwegs bin, bevorzuge ich Hörbücher. Meist kann das Hörbuch die Papierform übertreffen. Vieles hängt dabei ab vom Vortragenden. Der Schauspieler Burghart Klaußner (u.a. „Good bye Lenin“, „Die fetten Jahre sind vorbei“, „Das weiße Band“) ist eine der möglichen Idealbesetzungen für dieses Hörbuch.

Nicht immer ist das Hörbuch im Umfang identisch mit dem Originalwerk. So auch in diesem Falle. Umfasst das Buch elf Erzählungen, so sind es in diesem Hörbuch (warum nur?) auf drei CDS und 209 Minuten Laufzeit nur acht, nämlich:
– Fähner
– Das Cello
– Glück
– Notwehr
– Grün
– Der Dorn
– Tanatas Teeschale
– Der Äthiopier

Von Schirach hat es in seinem Beruf als Strafverteidiger in Berlin mit Menschen zu tun, die Extremes getan oder erlebt haben. Er vertritt Unschuldige, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ebenso wie Schwerstkriminelle. In diesen ausgewählten Geschichten erzählt er bzw. Klaußner lakonisch und unaufgeregt Fälle, die offenbar aus seiner beruflichen Praxis als Strafverteidiger stammen, natürlich so, dass sie nicht zurückverfolgt werden können und nicht mit seiner anwaltlichen Schweigepflicht kollidieren.

Der Clou: Alles Erzählte erfolgt aus der Perspektive eines Strafverteidigers, das heißt, es geht in diesen Geschichten nie um Schuld oder Moral, sondern stets nur um die Frage, reichen die Beweise aus, den Beschuldigten zu verurteilen?

Eine weitere Faszination dieser Fälle entsteht dadurch, dass am Anfang oft nur eine Kleinigkeit steht, und das Ganze plötzlich eine unerwartete, atemberaubende Dynamik entwickelt, sich hochschaukelt, wie in der Geschichte des pensionierten Arztes, der nach Jahrzehnten qualvoller Ehe mit einer Xanthippe diese ganz ruhig dahinmetzelt und hernach die Polizei bittet, ihn festzunehmen.

„Die Wahrheit ist merkwürdiger als Fiktion (…), denn Fiktion ist dazu verpflichtet, sich an Wahrscheinlichkeiten zu halten; die Wahrheit nicht.“

Und dass von Schirach den Leser / Hörer so ganz en passant mit einigen Prinzipien des deutschen Strafrechts vertraut macht, gibt dem Ganzen um ein weiteres Mal die intellektuelle Würze.

Fazit: Diese „Kost“ ist um vieles interessanter als die meisten Kriminalromane der letzten zehn Jahre.

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12 Antworten zu Ferdinand von Schirach – „Verbrechen“

  1. Iris sagt:

    Lieber Herr Heidtmann,

    erstens danke ich Ihnen herzlich für Ihre Einladung hierher.
    Zweitens möchte ich Sie auf etwas aufmerksam machen, beziehungsweise wenn Sie mögen, mit Ihnen folgende Romanfigur besprechen:
    In acht der elf Kurzgeschichten (allerdings nicht dieselben acht wie auf dem Hörbuch), erscheint ein Apfel als (unfreiwilliger?) Statist.
    Ich denke, das möchte dem Leser etwas sagen, doch bevor ich meinen Ergüssen freien Lauf lasse, möchte ich erst von Ihnen hören, ob Sie meine Meinung teilen, dass es sich hier um eine Absicht des Autors handelt.

    Auf weitere kurzweilige Divertimenti, freut sich
    Ihre Iris.

  2. Liebe Iris Wie-darf-ich-Sie-denn-anreden,

    mit dem Apfel haben Sie mich „kalt erwischt“ Kann mich an ihn so gar nicht entsinnen.
    Selektive Wahrnehmung? Kommt er im Hörbuch vor?

    Es gibt doch dieses Video, wo ein Bär über das Basketballfeld läuft und keiner hat ihn gesehen, weil die Aufgabe lautete, die Ballkontakte zu zählen (kenne Sie das?).

    Erzählen Sie bitte (!) mehr über den schuldhaften Apfel.

    Ihr
    KHH

  3. cdv! sagt:

    Lieber Karl-Heinz,
    merke gerade, dass ich viele zu lange nicht auf deine Rezensionen geschaut habe. Die neue Seite bietet natürlich einmal mehr Anlass, sehr hübsch geworden –> EE!

    Und dieser Beitrag über dieses Buch hat mich jetzt so neugierig gemacht, dass ich das mal gleich bestelle. Bloß, wo denn nur….?

  4. Iris sagt:

    Lieber Herr Heidtmann,

    so etwas nennt sich glaube ich Aufmerksamkeitsblindheit.
    Mir ist aufgefallen, dass:
    -Fähner dem Anwalt eine Kiste roter Äpfel sendet
    -In „Tanatas Teeschale“ einer der Protagonisten gerne in New York sein Lebensglück suchen würde, desweiteren werden Apfelscheiben in Honig erwähnt
    -In „das Cello“ ist es ein Apfel, der den Unfall der beiden Geschwister verursacht
    -In „Der Igel“ und „Glück“ kommt kein Apfel vor (das sind die Stories 4 und 5)
    -In „Summertime“ wollte Abbas einen Apfel stehlen, doch sein Vater schimpfte ihn und bezahlte den Apfel
    -In „Notwehr“ zieht der Unbekannte einen Apfel aus seiner Tasche, der ihm entrissen und auf den Boden geworfen wird
    -In „Grün“ kommen Augäpfel vor, wie auch die Feststellung, dass es sich bei der verbotenen Frucht nicht um einen Apfel handelt
    -In „Der Dorn“ kommt kein Apfel drin vor, höchstens eine Erwähnung „Äpfel und Tuch“. Der Dorn ist Story 9.
    -In „Liebe“ zerteilt Patrik einen Apfel mit dem Messer, bevor er die Missetat damit begeht
    -Und der Äthiopier starrt am Anfang der Geschichte wie gebannt auf einen faulenden Apfel.

    Zählen wir zusammen: 4+5+9=18, erinnert uns das an die Geschichte „Grün“.

    Denken wir an die mythologische Göttin Eris, die nicht eingeladen wurde und deshalb einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „Kallisti“ – Für die Schönste – in den Saal rollen. Die Folge davon war der trojanische Krieg.

    Der Apfel… vielleicht ein Sinnbild für „wo der Wurm drin ist“ – vielleicht ein Sinnbild für „Gefängnis“?

    gespannte Grüße von
    Iris

  5. … da bin ich einmal mehr beeindruckt über Ihr profundes Wissen und Ihre genaue Lesart. Respekt! Ich hätte da eher an den „Sündenfall“ gedacht – wegen des Zusammenhangs mit „Schuld“ und der Vertreibung aus dem Paradies.

    Die Frage, die ich Ihnen so gar nicht beantworten kann, ist ob FvS ein Freund der Symbolik ist. Spontan würde ich sagen: Auf gar keinen Fall. Der Mann ist stocknüchtern. Ganz anders dagegen ein Bernhard Schlink oder ein Urs Widmer.

  6. Iris sagt:

    Um Himmels Willen, soviele Bücher, wie die beiden geschrieben haben kann ich im Leben nicht lesen – können Sie eines der Werke besonders empfehlen?

    Sie meinen doch wohl eher „einfallslos“ als „stocknüchtern“ – er hätte gut auch anderes Obst in Erwägung ziehen können 😉 aber Sie sind der Literaturexperte, was weiß ich denn? Mir schien das fundierte mythologische Wissen, das FvS sich selbst in der Geschichte „Grün“ bescheinigt, ein Hinweis zu sein, ebenso wie der kleine Satz am Ende des Buches: „Ceci ce n‘ est pas une pommes!“, was sinngemäß ungefähr soviel heißen muss wie „Das [Leben] ist kein Zuckerschlecken!“, aber wortwörtlich bedeutet: „Dies ist kein Apfel!“

    Tatsächlich ist das Buch „Verbrechen“ überhaupt nicht leicht zu lesen, und mit dieser Erklärung tut sich ein Leser auch ab…. mir selber waren es einfach zuviele Äpfel, als dass ich sie für einen Bären halten könnte, ich hoffe Sie verstehen diesen kleinen Wortwitz 🙂

  7. Wenn ich mehr über Ihre Lesegewohnheiten wüsste oder den Hauch einer Idee hätte, was Sie für ein Mensch sind, was Sie bewegt, könnte ich Ihnen schon das eine oder andere Buch der beiden genannten Autoren empfehlen. So aber …

    Nein, „einfallslos“ ist FvS mE auf keinen Fall. Im Gegenteil.

    „Ceci n’est pa une pomme“ geht ja auf den Maler Magritte zurück, der mit dem Bild eines Apfels andeuten wollte, dass dies eben (nur) das Bild eines Apfels, nicht aber ein Apfel ist. Das hat er dann mit einer „Pfeife“ wiederholt. Meine Interpretation daher: Dies ist nur das Abbild, nicht die Sache an sich.

    Das könnte auch für Sie gelten. Sie schreiben, Sie seien Iris. Ceci n’est pas Iris. Würde ich mal meinen.

    Ja, bei Ihrem Wortwitz war ich gerade so in der Lage, Ihnen intellektuell folgen zu können 😉

  8. Iris sagt:

    Meine Lesegewohnheiten… Ja nun ich bin ein großer Michael Ende Fan und ich liebe alles was Paul Watzlawick geschrieben hat. Ich bin sehr interessiert an dem, was die Fantasie anregt und sich auch surrealen Stilmitteln bedient. Hilft Ihnen das irgendwie weiter?

    Zu Magritt kann ich nur sagen: dann erschließt sich mir nun umso mehr der Grund für das Zitat von Werner K. Heisenberg am Anfang der Lesestücke, das da lautet: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich.“

  9. Da ich ja „nur“ die Hörbuchversion kenne, wusste ich um beide Zitate nicht. Ich teile Ihre Interpretation. Phantasie? Dann könnten Sie es einmal mit Urs Widmers „Herr Adamson“ probieren (siehe Rezension hier).

  10. Leon Martinek sagt:

    Sehr geehrte Schreiber,

    lest doch einmal im Kapitel Glück auf Seite 64 die Zeilen 17-18, in denen, ich zitiere, steht:
    Er trug ein Apfelgrünes T-Shirt mit der Aufschrift: FORCED TO WORK.

    Danke

  11. Naja, und?
    Was soll denn so spannend sein an der Apfel-Symbolik?
    Wir haben es doch nicht mit Ken Follet oder so zu tun.

    Wenn Herr von Schirach uns etwas sagen wollen würde, dann täte er das mE wohl eher direkt. Und wenn er auf Symbolik stünde, mir wär’s egal. Ich lasse mich doch nicht veräppeln!

    Seine Bücher erschließen sich auch ganz hinreichend ohne jede Symbolik, wie gerade sein „Fall Collini“ zeigt. Da kommt übrigens kein einziger Apfel (mehr) vor.

    Das Buch wird ja derzeit verfilmt. Dann können ja alle Apfelapologeten mal schauen, ob der Pomme auch dort seine symbolische Verankerung findet.

    Mit pomologischen Grüßen
    KHH

  12. Sehr geehrter Herr Heidtmann,

    Ihrem 5-Sterne-Urteil kann ich vorbehaltlos zustimmen. Äpfel hin oider her, das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten. Wobei „beste“ hier nicht unbedingt zutrifft. Mal unglaublich (Fähner), mal tragisch (Das Chello), mal spannend (Notwehr), mal melodramatisch (Glück) und mal mit Happy End (Der Äthiopier).

    Viele Grüße

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