Helmut Schmidt – „Außer Dienst“

Rating: ★★★★☆ 

Zugegeben, mein politischer Freund war Helmut Schmidt in seiner aktiven Zeit als Politiker nicht. Und als Sozialminister würde ich mir auch heute keinen Helmut Schmidt wünschen. Doch als Fachmann für volkswirtschaftliche und geostrategische Fragen ist er eine Koryphäe.

Auch wer bisher möglicherweise dachte, die Zusammenhänge von Ökonomie und Demokratie durchschaut zu haben, wird eines Besseren belehrt: Der diskrete Charme der Demokratie wird in kaum einen anderen Buch so deutlich wie in diesem. Erst jüngst ist ein Horst Köhler an den ungeschriebenen Regeln der Politik im Amt als Bundespräsident verzweifelt und hernach gescheitert – für ihn gilt möglicher- und skurriler Weise die neue Gattungsbezeichnung „politikunfähig“.

„Wer von der Geschichte nichts weiß, kann seine Gegenwart nicht verstehen“, ist die immer wiederkehrende Hauptmaxime Schmidts Erkenntnis.

Denn das politische Geschäft besteht, wie Helmut Schmidt schreibt, aus einer „öffentlichen und einer veröffentlichen Meinung“. Auch über diesen Unterschied schreibt der Kanzler a.D. Dezent plaudert er aus dem Bonner Nähkästchen: „Erich Honecker erregte mehrfach beinahe mein Mitleid.“

„Demokratie“, schrieb neulich der Journalist Christian Nürnberger im SZ-Magazin, „das ist ja nur ein Verfahren, den Kampf aller gegen alle gewaltfrei und nach Regeln zu organisieren.“ Treffender kann man das kaum schreiben – auch wenn Autor Schmidt das so nicht formulieren würde. Er sagt es auf seine Weise: „Demokratie ist Menschenwerk“ – und damit fehlbar. Schmidt nimmt sich da nicht aus und reflektiert offen über eigenes Versagen.

In seinem Bild von Staat und Gesellschaft spielen vor allem „Netzwerke“ (ja, Helmut Schmidt nennt die so) eine Rolle, die einen „ewgen Bund flechten“. Die Freiheit von Amt und Aufgabe erlaubt es Schmidt auch, rücksichtslos abweichende Meinungen zu formulieren, wie etwa die: „Die politische Kultur der Demokratie, der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates ist nur schwer zu verpflanzen.“ So weit zu den Bemühungen der USA als Weltpolizei.

Die für mich entscheidendste Erkenntnis dieses Buches ist die dezidierte Meinung Schmidts, dass unser „eigentliches außenpolitisches Feld (..) in Europa (liegt), nicht aber im Kaukasus, im Nahen und Mittleren Osten, nicht in Asien oder Afrika (…) Unser Feld sind unsere Nachbarn in Europa, mit denen wir in gutem Frieden leben wollen.“ Und: „Der islamische Terrorismus kann mit militärischen Mitteln kaum wirksam beendet werden.“

Schon Voltaire ließ im Alter seinen Candide sagen „Il faut cultiver notre jardin.“ Denn: „(…) wo Menschen eng beieinander leben, ist eine gewisse Ordnung nötig.“

Ein hochinteressantes Buch, vielleicht ein epochales Werk, auch wenn man nicht alle Einschätzungen teilen möchte. Doch zum Verständnis der Bundesrepublik Deutschland trägt es bei wie kein anderes. Schmidt ist denn auch wohl einer der letzten großen Politiker, denen das Amt eine vom Volk auf Zeit verliehene Aufgabe war. Ihm nimmt man ab, dass es ihm – bei aller narzisstischen Selbstdarstellung und kritischen Distanz zur christlichen Zusatzformel – mit seinem Amtseid ernst war:

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

Dieser Beitrag wurde unter 4 Sterne, Zeitgeschichte abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.