Helmut Schmidt: „Unser Jahrhundert – ein Gespräch“

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Ein amerikanischer Historiker deutscher Herkunft und ein deutscher Politiker außer Dienst kommen im Sommer 2009, genauer vom 22. bis 24. Juni 2009, im Haus der Altkanzlers in Hamburg-Langenhorn zusammen, um Erfahrungen, Erinnerungen und Argumente auszutauschen, die um die großen Fragen des 20. Jahrhunderts kreisen.

Thomas Karlauf vom C.H. Beck transkribierte die mitgeschnittenen Texte – und Schmidt und Stern haben diese Textgrundlage jeweils noch einmal überarbeitet.

Der „Bonus-Track“ auf der letzten CD macht deutlich, weshalb die Redigierung des Gesprächs sinnvoll war, wenn man die Live-Passage mit dem gedruckten, redigierten Text vergleicht. Auch wird deutlich – obwohl es (nicht nur aus zeitdokumentatorischen Zwecken) sicher reizvoll gewesen wäre – weshalb es sinnvoll war, die Live-Mitschnitte nicht für ein Hörbuch zu verwenden, sondern durch professionelle Sprecher nachsprechen zu lassen.

Dabei hat der „Der Audio Verlag“ bei der Auswahl der Sprecher eine überaus kluge Entscheidung getroffen: Besonders Hanns Zischler hat sich offenbar sehr intensiv mit Sprache und Diktion seines „alter ego“ Helmut Schmidt beschäftigt, dass man fast den Helmut Schmidt der 70 und 80 Jahre zu hören glaubt. Doch auch Hans Peter Hallwachs ist eine nicht minder gelungene Besetzung der Rolle Fritz Sterns.

„Unser Jahrhundert“ ist kein Geschichtsbuch. Helmut Schmidt und Fritz Stern diskutieren vielmehr ihre unterschiedlichen Sichten über Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Der Hörer/Leser erfährt wie beide auf Grund ihrer unterschiedlichen Biografien über den Holocaust, das heutige Verhältnis der Deutschen zu Israel, über den Ost-West Konflikt, die Wiedervereinigung, Afghanistan und auch die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise, denken.

In lockerer Form sprechen und streiten beide über das Bismarcksche Rentensystem, über den Nahost-Konflikt und die Frage, wie viel Ethik die Politik verträgt. Einig sind sie sich in einem grundsätzlichen Punkt: Die Auseinandersetzung mit Geschichte ist für jede demokratische Gesellschaft unverzichtbar.

Positionen werden verglichen, Argumente ausgetauscht. Der Wechsel von Rede und Widerrede entschädigt für die Stellen, die nicht hinreichend ausdiskutiert werden können. Kein Politiker von Weltrang, den die beiden nicht persönlich gekannt haben. Nicht jeder kommt im Urteil der beiden gut weg und der Leser/Hörer erfährt so manches Detail der Zeitgeschichte, das ihm so sicher nicht geläufig war. Wer genau hinhört, erfährt auch Neues über den Zusammenhang von Staat und Volk – und ist vermutlich ernüchtert, wie pragmatisch ein Helmut Schmidt das Thema „Macht“ – auch in einem demokratisch verfassten – Staat beschreibt.

Tiefer Respekt wird spürbar, auch wenn der immer noch impulsive Helmut Schmidt seinem Gesprächspartner Stern öfters in die Rede fällt. Man merkt beiden an, wie sehr sie bemüht sind, das eigene Urteil noch einmal in der Meinung des Anderen spiegeln zu lassen.

Fazit: Wer auf unterhaltsame Weise etwas vom 20. Jahrhundert verstehen will, ist mit diesem (Hör-) Buch und seinen 5 CDs und 312 Minuten Laufzeit hervorragend bedient.

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