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Uwe Timm ist von seinem ersten Buch an immer schon ein ganz „anderer“ deutscher Autor gewesen, zeichnen sich seine Bücher durch einen hohen Grad an Authentizität bzw. Realitätsbezug aus. Die Gattung Roman oder Erzählung – auch wenn diese oftmals den Buchdeckel verziert – ist deshalb letztlich nicht immer wirklich passend.
Beschrieb Timm in seinem ersten Roman die Zeit der 68er und erzählte er später die Geschichte des Hochrads oder der Currywurst, so war dies immer auch ein Stück „non-fiktionale“ Zeitgeschichte. Immer sauber recherchiert, immer interessant, immer erbaulich, immerhochgradif einfühlsam.
Besonders spannend wird es dann, wenn Timm seine eigene Geschichte erzählt, wie in „Heißer Sommer“, „Rot“ oder besonders hervorzuheben „Der Freund und der Fremde“.
Das vorliegende Buch, das ganz bezeichnenderweise ganz ohne Gattungsbegriff auskommt, ist Uwe Timms intimstes Buch. Das Aufarbeiten der Lebensgeschichte seines im Russlandsfeldzug umgekommenen deutlich älteren Bruders Karl-Heinz hat Timm lange vor sich her geschoben. Es hat ihn spürbar viel Überwindung und Kraft gekostet.
Dabei ist dieses Buch nur zum Teil seinem Bruder gewidmet. Mindestens ebenso einfühlsam nähert sich Timm seinen anderen verstorbenen Familienmitgliedern an: Dem Vater, der Mutter, der Schwester. Nicht nur wer sich in der systemischen Theorie auskennt weiß, dass die eigene Lebensgeschichte untrennbar von der anderer Familienmitglieder ist. Wer etwas über sich erfahren will, kann dieses also nur im Spiegel und in der Begegnung mit den anderen tun.
Martin Walser hat in einem gemeinsam mit Günter Grass in einem Interview kürzlich gesagt, ein Schriftsteller, schreibe immer über das, was ihm fehle. Uwe Timm hat ein ergreifendes aber keineswegs sentimentales Buch über seine verstorbene Familie geschrieben, über Menschen, die ihm fehlen und formuliert am Ende seines Buches passend einen bemerkenswerten Gedanken: „Schreiben ist Notwehr“.
Das Hörbuch wird auf vier CDs und 280 Minuten von Gert Heidenreich kongenial und ungekürzt vorgelesen. Das hätte der Autor selber auch nicht besser gekonnt – und vermutlich bewusst darauf verzichtet.
Fazit: Ein höchst empfehlenswertes (hör-) Buch für alle, die etwas erfahren wollen über das Subjekt in den Unzeiten des deutschen Faschismus, den Menschen, wie er gelebt, gelacht, geweint oder einfach nur versucht hat zu überleben. Vor dem Hintergrund später Autorenbekenntnisse, wie denen eines Günter Grass, wirkt dieses kleine und doch ganz große Buch wie eine Entdeckungsreise in das Innere der eigenen Familie mit befreiender Wirkung. Uwe Timm hat sich nachträglich im besten Sinne mit Vater, Mutter, Bruder und Schwester „ver-söhnt“.