Thomas Mann – „Der Zauberberg“

Rating: ★★★★★ 

Weil sich die Leitmotive seiner „Komposition“ wie in der Musik erst erschlössen, wenn das Ganze bekannt sei, empfahl Thomas Mann die mehrmalige Lektüre seines Werks. Ich bin dieser Aufforderung gefolgt, wenn auch nicht im strikten Sinne.

Einst, vor Jahrzehnten, sah ich die Verfilmung des Buches durch Hans W. Geißendörfer in der inzwischen nicht mehr erhältlichen Langform. Vor Jahren lauschte ich dem ungekürzten Hörbuch, vorgelesen vom unvergesslichen Gert Westphal. Nun endlich habe ich auch die Textversion von fast 1000 Seiten geschafft.

Ohne Zweifel ist dies im Jahre 1924 erschienene Buch ein epochales Werk, das ohne die anderen Meisterwerke Thomas Manns alleine (be-) stehen kann. Das Buch hat vor allem die Zeit zum Inhalt – und damit das Vergehen und die Vergänglichkeit an sich. In der entrückten Atmosphäre des „Zauberbergs“, konkret im Sanatorium „Berghof“, sucht Hans Castorp nach dem „genialen Weg“ im Leben:

„Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!“

Die ersten beiden Tage im Sanatorium brauchen allein schon drei Kapitel und 150 Seiten: „Komisch ist und bleibt es, wie die Zeit einem lang wird zu Anfang, an einem fremden Ort.“

Die nächsten zwei Kapitel beschreiben von Castorps insgesamt sieben Zauberbergjahren zeitdehnend lediglich die ersten sieben Monate. Erst die letzten beiden Kapitel raffen und verdichten indes einen Zeitraum von sechs Jahren. „Große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen.“

In der Ereignislosigkeit des Zauberbergs zählen weder Vergangenheit noch Zukunft, darin liegt wohl auch der Zauber mancher abgeschiedener Kloster oder Zen-Zentren: Die Zeit scheint aufgehoben.

Andere sich durch das gesamte Buch ziehende Themen sind Politik, Philosophie, Liebe, Krankheit und Tod. Denn wie in allen seinen „Bildungsromanen“ diskutiert Thomas Mann modulartige die unterschiedlichsten Belange, inklusive okkulter Séancen – und auch eines seiner zentralen Interessen, die Musik, bekommt in diesem Werk ihren gebührenden Platz.

Die Atmosphäre ist eine Mischung von Tod und Amüsement, so wie sie Thomas Mann bei einem Besuch seiner Frau Katia im Sanatorium in Davos im Jahre 1912 (Waldsanatorium, Davos Platz, Dr. F. Jessen) kennengelernt hatte, die sich wegen einer „Lungenaffektion“ dort  sechs Monate lang aufhielt.

Das Äußere des 1898 errichteten und seit 1915 „Valbella“ genannten internationalen Sanatoriums, und das Innere des kleineren Waldsanatoriums bei Davos dienten als Vorbilder für die Beschreibungen des „Berghofs“ auf dem „Zauberberg“.

Weil er sich nach zehn Tagen bei feuchtkaltem Wetter auf dem Balkon einen Katarrh zuzog, schloss Thomas Mann sich Katia bei der nächsten medizinischen Untersuchung an.  Professor Jessen empfahl ihm, ebenfalls ein halbes Jahr im Sanatorium zu bleiben, um einen kleinen Lungenschaden auszukurieren. Thomas Mann reiste jedoch nach drei Wochen planmäßig wieder zurück nach München. Soweit zu den Parallelen zu Hans Castorp.

Ursprünglich hatte Thomas Mann beabsichtigt, die dortigen Eindrücke im Rahmen einer Novelle zu verarbeiten; sie sollte als „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“ zum 1912 erschienen „Tod in Venedig“ und in der Literaturzeitschrift „Neue Rundschau“ veröffentlicht werden. Anstatt einer Cholera-Epidemie in Venedig symbolisieren die Tuberkulosekranken im Schweizer Lungensanatorium auf dem „Zauberberg“ Morbidität und Verfall. Und in der Tat begann Thomas Mann bereits 1913 mit der Niederschrift und unterbrach hierfür sogar die Arbeit am Felix Krull.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn zu einer Pause. Er nahm die Arbeit erst 1920 wieder auf. Doch die geplante Novelle war mittlerweile zu einem zweibändigen Roman herangewachsen.

Dabei sind im „Zauberberg“ verwendete Motive und Anspielungen bereits in der 1903 erschienenen Erzählung „Tristan“ vorweggenommen, wo Anton Klöterjahn seine lungenkranke Frau Gabriele in ein Bergsanatorium bringt. Dort lernt sie den Schriftsteller Detlev Spinell kennen. Dieser bringt sie dazu, ein Stück aus Wagners Oper Tristan und Isolde auf dem Klavier vorzuspielen, obwohl ihr die Ärzte jede Anstrengung untersagt haben.

Der Schauplatz der Handlung, das Sanatorium „Berghof“, liegt nicht nur geographisch im Gebirge, sondern stellt auch eine hermetisch abgeschlossene Welt für sich dar: So wie sich einst in Goethes Faust Hexen und Zauberer zum Blocksberg zu einem obszön-höllischen Fest treffen, so wird auch das Sanatorium sinnbildlich in der als „Walpurgisnacht“ überschriebenen Karnevalsszene zum orgiastischen Fest.

Auch sonst sind Anspielungen auf Märchen und Mythologie allgegenwärtig: Das Castorp  nicht nur den Vornamen der Märchenfigur Hans im Glück trägt, sondern auch dessen frohgemute Naivität teilt, ist sicher kein Zufall.

Krankheit und Tod sind in diesem Roman allgegenwärtig. Nahezu alle Protagonisten leiden in unterschiedlichem Maße an Tuberkulose, die auch den Tagesablauf, die Gedanken und Gespräche beherrscht. Immer wieder sterben Patienten an der Krankheit. In den Gesprächen mit dem kleinen Schriftsteller Settembrini und dem Jesuiten Naphta wird die Todesthematik schließlich auf metaphysischer Ebene disputiert.

Während Clawdia (die Verschlossene) Chauchat (die in der Tat wie eine heiße, rollige Katze durch das Sanatorium schleicht), Mynheer Peeperkorn (der Pfeffersack), Lodovico Settembrini (der siegreiche Spieler) und Leo Naphta (hier riecht man förmlich die Mottenkugeln) jeweils eine Lebensauffassung repräsentieren (Müßiggang und Disziplinlosigkeit; Lebenslust und Ausschweifung; Vernunft, Toleranz, Freiheit; die gewaltsame Herstellung einer besseren Welt), muss Hans Castorp ihre Gegensätzlichkeit aushalten, um selber zu reifen. Doch am Ende – so befürchtet es der Erzähler – fällt er als Kanonenfutter im Ersten Weltkrieg: Der Roman endet in einem mörderischen Krieg, dem „Weltfest des Todes“.

Dass das Buch von einer großen Depression geprägt ist, die ansteckend sein kann, sollte man warnend hinzufügen. Dies wissend lautet denn auch der einzige kursiv gedruckte, zentrale Satz dieses großartigen Buches:

„Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“.

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