Wolfgang Herles – „Die Dirigentin“

Rating: ★★★★☆ 

Der Dirigent wird als Vorbild oder Beispiel von Führung gerne und oft benutzt:
„Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigierens.“ Dies ein Zitat von Elias Canetti, das dem Roman vorangestellt wird.

Was liegt also näher, in die Welt der Musik einzutauchen, will man die der Macht beschreiben? Kaum einer ist dazu derart berufen wie Wolfgang Herles: Moderator politischer Sendungen wie „aspekte“ und intimer Kenner der Oper gleichermaßen.

Drei Personen stehen im Mittelpunkt des Romans: Die (in jeder Hinsicht erfundene) Dirigentin Maria Bensson, die (in jeder Hinsicht reale – auf dem Cover des Romans ist sie abgebildet, man sieht sie von hinten, einen roten Teppich hinuntersteigend) Kanzlerin Christina Böckler und der von ihr geschasste (gleichermaßen erfundene, wie auch keines falls alter ego Herles) Staatsminister Jakob Stein.

Ist die Macht über die Musik das schöne Gegenbild zur kalten Macht der Kanzlerin?Auch Frauen schwingen zunehmend gern auch selbst den Taktstock. Und herrschen im Theater nicht die gleichen schrecklichen Intrigen wie hinter den Kulissen des politischen Betriebs?

Nachdem die eine ihn aus dem Amt hinausgeworfen hat, folgt Stein jedenfalls nun der Dirigentin auf ihren Konzertreisen nach Paris, Wien, Mailand, Zürich und Berlin. Er verehrt sie zunächst heimlich von Weitem, wird dann zu ihrem treuen Aktentaschenträger. Dann stalkt er sie, belästigt sie, wirft sich ihr zu Füßen. Und sie, eigentlich Lesbe und bei einer feschen Bankerin in festen Händen, gibt ihm ab und zu den kleinen Finger, man weiß ja nie, wozu der Kerl eines Tages nützlich sein kann. Ab und zu gibt es gar ein gehauchtes Küsschen.

Jakob Stein ist ein wandelnder Minderwertigkeitskomplex, unfähig, Frauen seine Gefühle auszudrücken, ein Möchtegernkünstler, der vor seiner Stereoanlage dirigiert und heimlich Regiekonzepte entwirft. Stein will nur eines: Hinein ins „Staatsoperndirigentenbett“.

Was Herles so detailliert aus der Welt der Politik und aus der Welt der Musik zu berichten weiß, zeugt von einer feinen Kenntnis der Gepflogenheiten und Geschehnisse, die er mit Bosheit serviert, an sich jedoch nichts als der übliche Gossip auf Regenbogenpresseniveau.

Erst im letzten Drittel der Geschichte taucht Kanzlerin Böckler alias Merkel persönlich auf. Interessiert wendet sie sich der Dirigentin Maria Bensson zu. Zwei verwandte Seelen mit ähnlichen Problemen. Das Dirigieren und das Regieren werden nun konkret. Es kommt zu einer fast intimen Begegnung im Gästezimmer, bei der die beiden Damen Händchen halten. Die Kanzlerin hat kleine Patschhändchen: „Da haben wir also die visionäre und die pragmatische Hand. Die eine ein Instrument der Vernunft, die andere eines der Seele“, sagt sie salbungsvoll.

Stein gibt sich angesichts dieser Entwicklung auf. Er ist ein Opfer weiblicher Macht. Vielleicht also doch am Ende ein Schlüsselroman? Ein belletristischer Beitrag zur Debatte um das wegbröckelnde Männlichkeitsbild? Am Ende stirbt Stein einen schönen Operntod zu den letzten triumphalen „Rheingold“-Klängen, beim Einzug der Götter in Walhall: „Was in seinen Ohren dröhnt, könnte Beifall sein.“

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