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Walter Kempowskis Lebenswerk besteht vor allem im Bewahren – nachdem er zunächst Lehrer und dann Autor war. Die große literarische Anerkennung hat er nicht erhalten. Die zeitgenössischen deutschen Großschriftsteller haben immer auf ihn, diesen kauzigen kleinen Mann aus Rostock, herabgeschaut. Dabei gelingt es Kempowski wie keinem anderen, die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seiner eigenen Familiengeschichte als Beispiel deutschen Bürgertums zu verknüpfen.
Dass ihm das auf seine ihm eigene, unnachahmliche, harmlose Weise – und damit ganz anders als 50 Jahre zuvor Thomas Mann in seinen „Buddenbrooks“ – gelungen ist, ist unbestritten. Dass Walter Kempowski deutlich mehr Bodenhaftung hat als der ständig in höheren Sphären schwingende und an geschraubten Sätzen kreißende Thomas Mann, muss nicht notwendig gegen sein Werk an sich sprechen.
Nach und nach hat Walter Kempowski seine eigene Vergangenheit literarisch aufgearbeitet und daraus seine “Deutsche Chronik” gemacht:
Deutsche Chronik I. Aus großer Zeit. 1978
Deutsche Chronik II. Schöne Aussicht. 1981
Deutsche Chronik III. Haben Sie Hitler gesehen? 1973
Deutsche Chronik IV. Tadellöser & Wolff. 1971
Deutsche Chronik V. Uns geht’s ja noch gold. 1972
Deutsche Chronik VI. Haben Sie davon gewußt? 1979
Deutsche Chronik VII. Ein Kapitel für sich. 1975
Deutsche Chronik VIII. Schule. 1974
Deutsche Chronik IX. Herzlich willkommen.
Dieser autobiographische Roman aus dem Jahre 1984 beschreibt als neunter und letzter Band der Deutschen Chronik die Jahre nach Kempowskis Entlassung aus Bautzen und seiner Ankunft in der Bundesrepublik.
„Wird schon werden, da müssen wir eben durch„, sagt Mutter Grethe, als ihr Sohn Walter nach acht Jahren Haft aus dem Zuchthaus Bautzen zu ihr nach Hamburg zurückkehrt ohne Ausbildung und Beruf, ohne Ziel und Geld.
Lakonisch berichtet Kempowski über seine ersten Erfahrungen mit dem
Nachkriegsdeutschland des Aufbaus. Er erhält eine Einladung der Ökumene in die Schweiz und trifft in Locarno im „Haus Zwingli“ auf allerlei Gäste, die er mit unnachahmlichem Humor beschreibt. Auf der Burg Hatzfeld im Werragebiet versucht er sich als Erzieher für schwierige Kinder.
Der Lebensgefährte seiner Mutter, Cornelli, bringt ihn dann trotz fehlender Hochschulreife an der Pädagogischen Hochschule (PH) in Göttingen unter – was Kempowski einmal mehr wurmt, schauen doch die Studenten der Universität Göttingen (wie an anderen Universitäten) auf die Kommilitonen der PH herab – der ewige Verlierer lässt grüßen.
Doch endlich beginnt ein fast sorgloses Studentenleben. Herrlich beschreibt er nun seine Studienzeit, wie es sich lebt bei Vermietern, köstlich auch die Beschreibungen der verknöcherten Dozenten und verdrucksten Kommilitonen der auslaufenden 50er Jahre.
Und als endlich auch der Bruder aus Bautzen entlassen wird, ist die Familie fast wieder komplett zusammen – die de Bonsacs wie die die Kempowskis – und man feiert ein großes Fest: „Isses nicht wundervoll?“
Wer die oft wehleidig-klagende Art Kempowskis, die immer an der Grenze zum Selbstmitleid vorbeischrammt und sich mittels einer fidelen Lakonie selbst aufhebt, mag, der kommt so schnell nicht wieder von ihm los.
Es dauerte auch lange, bis sich die Literaturkritik überwand, Walter Kempowskis großartige Familiengeschichte bzw. sein Gesamtwerk ernstzunehmen: “Wie isses nu bloß möchlich?“