Walter Kempowski – „Sirius“

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Walter Kempowski ist keiner jener hochintellektuellen Schriftsteller wie ein Martin Walser vom Bodensee oder ein Günter Grass aus Schleswig-Holstein, so viel vorab.

Und diese Kollegen, da ist er sich sicher, schneiden ihn, und das tut weh. Seine Frau Hildegard – von der nur sehr, sehr selten die Rede ist in diesem Tagebuch, so dass man  meinen möchte, sie käme so gar nicht in seinem Leben vor – weiß auch warum: „Das kommt daher, daß du nach nichts aussiehst, so grau und unbedeutend, und daß du kein Akademiker bist.“ Er ist vielmehr in seinem Inneren immer ein Kind geblieben: „Ich bin immer noch ein Zwölfjähriger und habe den Ranzen auf dem Rücken, wenn ich mit Großer Welt zusammentreffe.“

Kempowski hat keine hochgeschraubten oder gedrechselten Gedanken, die er in wohlgesetzten Worten in harten Granit meißelt. Er ist auch nicht „kompliziert“ in seiner Persönlichkeit, nur ein wenig verschroben, vermutlich durch acht Jugendjahre in Bautzen verstört: „… und weil ich so viele Jahre verloren habe, rase ich jetzt wie angestochen durchs Leben.“ Und er hält sich für einen Verlierer: „Ich bin im übrigen ‚out‘. Outer geht’s überhaupt nicht.“

Kempowski ist im Grunde ein einfacher Mensch: „Ich bin der Sonnyboy der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein hingeschissenes Fragezeichen.“ Weil er offenbar selber erkannt hat, dass ihm das literarische Potenzial eines Böll, Walser oder Lenz fehlt, hat er nach einigen mittelmäßig erfolgreichen Romanen seinen ihm eigenen Weg als „Archivar der Zeit“ gefunden.

Doch erst mit seinem Kollagenbuch „Echolot“ gelingt ihm der wirkliche Durchbruch, bekommt er endlich die so sehnlichst erwünschte Anerkennung: Er hat damit seine Nische im Literaturbetrieb gefunden. „Im Grunde bin ich ein Getriebener, ich weiß auch, was mich antreibt.“

Als „eine Art Tagebuch“ bezeichnet Walter Kempowski, daher auch seine persönlichen Aufzeichnungen zu scheinbar alltäglichen und banalen Ereignissen, in denen er ein detailliertes Bild des Jahres 1983 wiedergibt, und dieses teilweise aus der Sicht späterer Jahre kommentiert. „Objekte der Vergangenheit aufzubewahren – das heißt, seine eigene Reliquie sein. In dieser Hinsicht ist mein ganzes Lebenein einziges Sakrileg.“

Der penible Chronist hat sich mit dem Tagebuch von der Vergangenheit abgewandt („Alles Schreiben ist nur das Ertasten von Verlorenem.“) und die Gegenwart entdeckt – doch sein fanatisches Sammeln hat er nicht aufgegeben: „Der Zauber, der von Karteien ausgeht. Karteien machen süchtig.“

„Sirius“ ist das erste veröffentlichte Tagebuch von insgesamt vieren. Es umfasst das Jahr 1983 mit Kommentaren aus dem Jahre 1990. Für all seine Grübeleien reichen die mehr als 600 Seiten gerade mal für ein einziges Jahr aus. „Arbeit ist Droge und Medizin zugleich.“

Kempowski hat drei Jahre zuvor den Schuldienst quittiert und den Rest gegen zehn Jahre Lehrtätigkeit an der Universität Oldenburg „eingetauscht“. Er arbeitete zu dieser Zeit am letzten Band seiner „Chronik“. Das Buch wird im Jahr darauf unter dem Titel „Herzlich willkommen“ erscheinen.

Zwischendurch unternimmt er immer wieder Lesereisen, vor allem des Geldes wegen. Da ist er eisern, auch wenn er nicht gerne allein in der Fremde ist: „Im Hotelzimmer dann wieder diese Einsamkeit. Alle Menschen dürfen zu Hause sein, und ich muß hier in der Fremde umherirren …“ Tatsächlich wäre er viel lieber zu Hause: „Sich mal ein paar Monate oder wenigstens Wochen still zu Haus aufhalten, ohne Zeitung, ohne TV. Nur aus dem Fenster gucken. Das ist meine Vorstellung von Glück.“

Von Selbstzweifel geplagt notiert er: „Natürlich macht es sich auch hier wieder bemerkbar, daß ich keine Ausstrahlung habe, mausgrau wirke, das Format vermissen lasse … .“ Und er weiß selber nur zu genau, dass er manchmal schrullig und oft auch ungehalten ist: „Oh Gott! Wie bin ich abstoßend in solchen Fällen. Kempowski ist schwierig.“ – „Sind Sie denn ein solcher Sauertopf?“

Auch seine Familie wird immer wieder Opfer und Zeuge seiner Wutausbrüche, die sich an Kleinigkeiten entzünden können- und die ihm selber leid tun: „Am Nachmittag hatte ich leider  wieder einen meiner häßlichen Ausfälle, den die Kinder sicher ihren Urenkeln überliefern werden. Irgendwo waren keine Lichter angezündet, und es fehlte auf den Kekstellern Tannengrün.“ – „Ich rase mein Leben zu Ende.“

Dann sitzt der Dichter, der betrübt feststellen muss, daß ihm „auch die Haut am Gesäß schlaff“ wird, im Hochsommer hitzegeplagt an seinem „tröpfelnden Brunnen“, während andere Kollegen viele Jahre später noch von einem „springenden Brunnen“ schreiben werden. Kempowski ist als Gegenpart zu seinen ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühlen ohne jeden Zweifel und fast psychopathisch eitel: „Leider treibt mich das in unwillkürliche Eitelkeit hinein …“

Unschwer erkennt der Leser in „Sirius“ auch die Entstehungsgeschichte des Buches „Hundstage“, das 1988 erscheinen wird. Tatsächlich melden sich zwei Mädchen, Marion und Andrea, die Kempowski in Abwesenheit seiner urlaubenden Frau „den Hausstand führen wollen„. Eine große Hilfe sind sie ihm nicht: „Das falsche Geschirr beim Kaffeetrinken, ungesalzene Kartoffeln zu Mittag und eine sich über alles legende Schicht von Großstaub.“

Die Mädels belauern den Schriftsteller, und er schnürt ihrem „Geruch nach Seife und Niveacreme„, hinterher, ist sich nicht zu schade, sich ein wenig vor ihnen zu „produzieren“, den Großschriftsteller zu spielen, während sie sein Haus in Unordnung bringen. Überhaupt gibt sich er Autor selber überaus häufig als „spießig“ zu erkennen.

Aber nicht nur den Nymphchen, die er gelegentlich fotografiert und aufs Ohrläppchen küssen darf, ohne sich ihnen ernsthaft zu nähern, gilt das Interesse des Tagebuchs.  Ständig geht es Walter Kempowski auch um seinen Marktwert im Literaturbetrieb, sein Verhältnis zu den anderen Schriftstellern, seine Eitelkeit: „An der Alster verschiedene Erkennungen, was mich dazu brachte, ein ernstes Schriftstellergesicht aufzusetzen. Wenn mich Leute direkt anstarren, grüße ich sie.“

Er lässt keine Gelegenheit aus, seine Kollegen mit kleinen Bosheiten zu bedenken: Karin Struck hat „das rote Haar zu einem penisartigen Zopf geflochten“ und als er Günter Grass im Fernsehen sieht, fällt ihm gehässig ein: „So ein bißchen wie Hitler im Bunker der Reichskanzlei sieht er jetzt aus.“

Kempowski, der so gerne ein Großschriftsteller wie Thomas Mann geworden wäre, es aber „nur“ zum Archivar Walter Kempowski gebracht hat, erreicht in seinen Tagebüchern immerhin einen Mann-ähnlichen Peinlichkeitskoeffizienten, ja, er hat diesem sogar eines voraus: Sein Sammelsurium ist bei weitem komischer, und so mancher Leser mag den kleinbürgerlichen und spießigen Kempowski auch in sich erkennen – ein Mensch wie er leibt uns lebt.

Dabei sehnt Kempowski sich wie alle Menschen nach nichts mehr als nach ein bisschen Anerkennung, Wahrnehmung, Zuneigung und Liebe: „Ich wünsche mir von ganzem Herzen, daß Menschen kommen, mit denen ich mich austauschen kann, die mir das zurückbringen, was ich ich geschrieben habe, mich also tüchtig loben, aber wenn sie dann da sind, ist es doch auch quälend.“ – Es gehört viel Mut dazu, sein eigenes Leben inklusive aller Obsessionen so öffentlich zu machen.

„Es geht ein nihilistischer Zug durch diese Aufzeichnungen, das geb‘ ich zu.“

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